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Die Schriftstellerin Ulrike Draesner. Sie wurde 1962 in München geboren.

© Dominik Butzmann

Ulrike Draesners Roman „Die Verwandelten“: Das Sprechen der stummen weiblichen Zeugen

Nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse: Die Berliner Schriftstellerin erzählt von den Kriegsschicksalen mehrerer Frauen und wie diese sich auch auf die nachfolgende Generation ausgewirkt haben.

Es dauert fast bis zum Ende dieses überbordenden, überaus kunstvollen Romans, dass auf seinen Titel konkret Bezug genommen wird. Eine Mutter gibt ihrer Tochter Ovids „Metamorphosen“ zum Lesen, „korallenrot schmal, der Umschlag weich“ das Buch.

Es erzählt in seinem sechsten Teil von Philomela, der nach einer Vergewaltigung die Zunge herausgeschnitten wird. Überhaupt sei fast fünfzig Mal von Vergewaltigungen die Rede, wie es Doro, die Tochter gezählt hat. Für ihre Mutter Reni wiederum, die 1945 im Alter von 17 Jahren mehrmals vergewaltigt worden ist und sich später zu Walla verwandelt, hat dieses Buch etwas von einem „Sprechen der stummen Zeugen.“ Sie kann Doro nur so sagen, was ihr widerfahren ist.

Ulrike Draesner erzählt in ihrem neuen, für den Preis der Leipziger Buchmesse nominierten Roman von mehreren, auf unterschiedlichste Art verwandelten Frauen aus drei Generationen, von deutsch-polnischen Mutter-Tochter-Beziehungen, und das von Beginn des 20. Jahrhunderts an. Reni aka Walla ist die vielleicht auffälligste dieser Frauen, sie dominiert den zweiten Teil des 600 Seiten zählenden Romans.

Thema Lebensborn

Doch da sind auch noch Kinga, die dem Autorinnen-Alter-Ego am nächsten kommt, deren Mutter Alissa und Großmutter Adele; und da ist Else, die Mutter von Reni, 1902 geboren, und Gerda, die Adoptivmutter von Alissa, die 1900 geboren wurde. Im Zentrum stehen die Ereignisse zwischen 1933 und 1945, die das Leben der Frauen durcheinandergewirbelt und sie traumatisiert hat.

So kompliziert es zunächst wirkt, so schnell findet man sich in dem Beziehungsgeflecht auch zurecht - und so schnell werden Berlin, Breslau, das heutige Wroclaw oder Steinhöring bei München zu Orten, die mehr als erloschene Vulkane sind, anders als es Draesner vor Beginn ihres Romans meint.

Der Stoff, den die 1962 in München geborene und in Berlin lebende Schriftstellerin hier ausrollt, ist ein gewaltiger: der Rassenwahn der Nazis, ihr Erziehungsdiktat, die Lebensborn-Heime, Flucht, Vertreibung, Vergewaltigungen, überhaupt Gewalt gegen Frauen. Diese scheinen auf den ersten Blick durchweg Opfer zu sein, wehren sich aber gegen ihre Opferrollen, fügen sich nie in diese.

Problematisch jedoch ist, wie Draesner ihren Stoff behandelt, wie sie ihre Geschichten erzählt. Mehr noch als Autorin von nicht selten ausufernden Romanen („Die Verwandelten“ ist der dritte mit dem Themenkomplex Flucht und Vertreibung) ist sie als Lyrikerin bekannt und vielfach ausgezeichnet worden. Roman hin oder her: „Die Verwandelten“ zeigt Draesner durchweg als Lyrikerin.

Dabei stellt sich die Frage, ob Draesner selbst sich bei diesem Stoff nicht etwas mehr hätte zurückhalten und ihren Figuren mehr Raum zum Atmen, Sprechen, Erzählen geben können. Jedem Kapitel sind formal unterschiedlichst gestaltete Gedichte quasi als Motto vorangestellt, und jedes Kapitel wird von einer anderen Frau größtenteils aus der Ich-Perspektive erzählt. Wobei „Erzählen“ es nicht richtig trifft.

Hochartifizielle Stimme

Insbesondere im zweiten Teil, als die Kriegsereignisse sich überschlagen, als beispielsweise Else zu Wort kommt, ist ihre Stimme eine hoch artifizielle. Nach so gut wie jedem Satz gibt es einen Bruch, und es heißt beispielsweise „Es ist vier Tage her, ich/habe den Halteatem, es ist nicht/ normal, es/ ist vier Tage her, meine erste/ Begegnung mit der Zartheit, ich meine Zerteilung/ich meine der Zeit, alles/ voller Glassplitter, Staub, vier Tage“ und so weiter.

Augen wie Zwei-Euro-Münzen

Nur unzureichend wird klar, warum Draesner als Autorin ihren Figuren so in die Parade fährt. Viele der Reni-Szenen in den ersten, anarchisch anmutenden Nachkriegsmonaten mögen anders gar nicht geschildert werden können, wegen der Traumatisierungen, der Stummheit, der metophorische herausgeschnittenen Zungen.

Aber die Tränen als schwarze Symbole in dem nicht selten durchaus originellen, nachdrücklichen Gerda-Kapitel? Die durchgestrichenen Worte bei Else, die Buchstabenauseinanderziehungen bei Reni, die Wortzusammenziehungen bei anderen, die Vielzahl bedeutungsschwangerer Motive, die Buchfinken, Pinien, Wurmlöcher?

Nichts gegen Formbewusstsein, gegen das Ausstellen von Kunstfertigkeit, gegen das Spiel mit der Sprache (wobei dieser Roman auch viele Stilblüten enthält: „Kinga machte Augen wie Zwei-Euro-Münzen“, „Das Gespräch klatschte wie ein Stein ins Wasser“...) – doch hat man den Eindruck, dass Draesner darunter die Schicksale der Frauen begräbt, sie deren Schweigen, deren „gemeinhin überhörten Stimmen“, wie es ihr Anliegen ist, nur unzureichend hörbar macht. Solcherart ästhetisiert, will das kaum durchdringen. Authentizität klingt hier wie ein warmes Gewehr.

Uwe Johnson hat einmal über seine „Mutmaßungen über Jakob“ gesagt, er habe das Buch so geschrieben, „als würden die Leute es so langsam lesen, wie ich es geschrieben habe“. Das ist das Mindeste, was auch Ulrike Draesner ihren Leserinnen und Lesern abverlangt. Trotzdem ist nicht gewiss, ob die Schicksale von Reni, Alissa und Co in Erinnerung bleiben - oder die ihre Figuren allzu dominierende Erzählstimme von Ulrike Draesner.                       

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