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Schutzhelme und Jacken hängen in einem Ausbildungszentrum.

© picture alliance/Peter Endig

Fachkräfteeinwanderungsgesetz: Höchste Zeit, die ideologischen Scheuklappen abzulegen

Oh Schreck, sie kommen! So tönt es vielerorts. Dabei müsste es längst heißen: Oh Schreck, sie kommen nicht! Deutschland befindet sich in einem globalen Wettbewerb um Arbeitskräfte.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Es war eine Woche der Rekorde. Zum Jahresende 2022 lebten 84,4 Millionen Menschen in Deutschland. Verursacht wurde der Anstieg durch Zuwanderer. Die Hauptherkunftsländer sind die Ukraine, Afghanistan, Syrien. Ohne Zuwanderer wäre die Bevölkerung geschrumpft. Denn es gab 327.000 mehr Todesfälle als Geburten. Der Ausländeranteil an der Gesamtbevölkerung beträgt jetzt 14,6 Prozent.

Berlin ist ein Spiegelbild dieser Entwicklung. 3,8 Millionen Menschen lebten zum Jahreswechsel in der Stadt, die nun so dicht bevölkert ist wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Auch hier ist der Anstieg allein eine Folge des Zuzugs, denn es sind mehr Menschen gestorben als zur Welt gekommen. Der Ausländeranteil liegt bei 21 Prozent.

Die dritte Rekordzahl löst Trauer und Wut aus. Knapp 110 Millionen Kinder, Frauen und Männer waren im vergangenen Jahr weltweit auf der Flucht. Vertrieben wurden sie durch Klimakatastrophen, Kriege und Bürgerkriege, Armut und Hunger. Flüchtlinge ertrinken im Mittelmeer.

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„Droht Europa ein zweites 2015?“, wird besorgt gefragt

Städte und Gemeinden fühlen sich mit der Aufnahme und Integration der Schutzsuchenden überfordert. Sie klagen über finanzielle und räumliche Engpässe. „Droht Europa ein zweites 2015?“, wird besorgt gefragt. Überall in Europa sind ausländerfeindliche und rechtspopulistische Parteien im Aufwind. Die Europäische Union versucht, Einigkeit zu demonstrieren und will das Problem an ihre Außengrenzen verlagern. Kaum einer glaubt, dass das wirklich funktioniert.

Einige Länder agieren extrem. In Großbritannien wird wohl demnächst ein neues Gesetz das Asylrecht praktisch abschaffen. Sogenannte „illegale Migranten“, die in kleinen Booten an der britischen Küste landen, sollen auf Schiffe verfrachtet und in Kasernen festgehalten werden. Anschließend fliegt man sie in ein Drittland wie Ruanda aus. Erst nach ihrer Abschiebung sollen die Schutzsuchenden das Recht haben, Asyl zu beantragen.

Oh Schreck, sie kommen! So tönt es vielerorts im Westen. Dabei müsste es längst heißen: Oh Schreck, sie kommen nicht! Jedenfalls nicht zu uns. Denn immer mehr Länder leiden unter einem Bevölkerungsrückgang und unter fehlenden Arbeitskräften. Deutschland befindet sich in einem globalen Wettbewerb um den Zuzug von Menschen, die hier arbeiten wollen und können. Nicht Migration ist das Problem, sondern die Überalterung der Gesellschaft, verbunden mit schrumpfenden Wirtschaftsleistungen.

Steigende Kosten für Rente, Pflege und Krankenversorgung

Wie sind die Trends? Im Jahr 2010 war die Geburtenziffer in 98 Ländern kleiner als 2,1. Das ist der Wert, unterhalb dessen die Reproduktion einer Bevölkerung nicht mehr gewährleistet ist, diese also schrumpft. Im Jahr 2021 waren es schon 124 Länder, im Jahr 2030 werden es, laut Schätzungen, die der „Economist“ referiert, 136 Länder sein.

Dabei beschränkt sich der Rückgang der Geburtenrate beileibe nicht auf westliche Länder. In den 15 größten Volkswirtschaften der Welt – einschließlich Brasilien, China, Indien und Mexiko – liegt sie bei unter 2,1. Staatliche Programme zur Erhöhung der Geburtenrate sind nirgendwo erfolgreich gewesen.

Was bedeutet eine alternde, schrumpfende Gesellschaft? Sofern sie verbunden ist mit einer höheren Lebenserwartung hat sie steigende Kosten für Rente, Pflege und Krankenversorgung zur Folge. Das wird durch Steuern finanziert, die von immer weniger Arbeitskräften aufgebracht werden müssen. In alternden Gesellschaften werden weniger Patente angemeldet, die Zahl der Innovationen geht zurück.

Gering Qualifizierte werden ebenso gebraucht wie Hightech-Spezialisten

Dem deutschen Arbeitsmarkt fehlen bis 2035 sieben Millionen Arbeitskräfte, in Berlin werden es laut Prognose der Industrie- und Handelskammer 414.000 sein. Betroffen sind fast alle Branchen, vom Friseur bis zum Elektriker, vom Gastgewerbe bis zum Gesundheits- und Sozialwesen, von der Pflege bis zur Erziehung. Gering Qualifizierte werden ebenso gebraucht wie Hightech-Spezialisten. 630.000 offene Stellen konnten 2022 nicht besetzt werden.

Personalnot verursacht Personalnot: Wenn in einem Betrieb Arbeiter fehlen, erhöht sich der Druck auf die Restbelegschaft, mehr zu arbeiten. Der Stress nimmt zu. Das hat wiederum Kündigungen zur Folge. Die Fliehkräfte setzen eine Abwärtsspirale in Gang. Und schon jetzt steigt kontinuierlich der Anteil der 20- bis 34-Jährigen, die in Deutschland keine Berufsausbildung haben. Im Jahr 2016 waren es 14 Prozent, im Jahr 2021 schon 17,8 Prozent. Dabei sind Azubis die Fachkräfte der Zukunft.

Das Zauberwort heißt „Spurwechsel“

Was tun? Die Ampel-Koalition hat das Problem erkannt, packt es mit ihrem Fachkräfteeinwanderungsgesetz aber noch zu zaghaft an. Die Einwanderung von Fachkräften wird erleichtert, vorgesehen ist ein Punktesystem nach kanadischem Vorbild. Asylbewerber sollen bleiben dürfen, wenn sie ein existenzsicherndes Jobangebot haben. Das Zauberwort heißt „Spurwechsel“. Da verbindet sich auf wundersame Weise die Humanität der Grünen mit der Wirtschaftsfreundlichkeit der FDP.

Doch gut ist nicht gut genug. Jahrzehntelang lautete das konservative Dogma, das Asylrecht dürfe kein Einwanderungsrecht sein. Nun ist es höchste Zeit, sich über den Sinn und Widersinn von Abschiebungen Gedanken zu machen. Was spricht dafür, gut integrierte, aber abgelehnte Asylbewerber, die weder straffällig geworden sind noch falsche Identitätsangaben gemacht haben, abzuschieben? Der Staat hat in diese Menschen viel Geld investiert. Er hat sie die Sprache gelehrt, untergebracht, versorgt. Eine Abschiebung „um des Prinzips willen“ ist inhuman, unsinnig und oft ein Akt der Steuerverschwendung.

Deutschland braucht Einwanderung. Es muss mithalten im globalen Wettbewerb um Fachkräfte. Es muss eine Qualifizierungsoffensive für Migranten starten, die bereits hier sind und unterqualifiziert sind. Es muss Fähigkeiten individuell fördern. Auf Deutschkenntnisse kann verzichtet werden, wenn die vorhandenen Sprachkenntnisse dem Arbeitgeber genügen. Pragmatismus ist gefragt.

Die Zeit drängt. Das Beispiel Japan zeigt, was passiert, wenn die Bevölkerung eines Landes schrumpft und vergreist, weil das Thema Einwanderung tabuisiert wird. Die Zahl der Neugeborenen ist dort auf ein Rekordtief gesunken. Die Geburtenrate liegt bei 1,3. Schulen werden geschlossen. Im Jahr 2020 waren 30 Prozent der Japaner älter als 65. Premierminister Fumio Kishida warnte Anfang des Jahres, dass der Staat seine sozialen Funktionen bald nicht mehr erfüllen kann.

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