zum Hauptinhalt
Die Karl-Ziegler-Schule in Mülheim an der Ruhr.

© Imago/Funke Foto Services

Gewöhnung an die Pisa-Katastrophe: Die Pandemie liefert die perfekte Ausrede

Die Lage ist schlimmer als je zuvor: Deutsche Jugendliche haben bei Pisa noch schlechter abgeschnitten als im Jahr 2001. Etwas verändern wird sich dadurch dennoch nicht.

Ein Kommentar von Anke Myrrhe

Es ist ein Schock, der eigentlich niemanden mehr schockiert. Alles andere als die nächste Pisa-Katastrophe wäre eine große Überraschung gewesen. Deutschland ist nun endgültig im Durchschnitt der OECD-Staaten angekommen – und der Durchschnitt ist schlechter als zuvor.

So schwach wie nie sind die Leistungen von 15-Jährigen in Deutschland, so lautet das vernichtende Urteil der internationalen Bildungsstudie Pisa, die einst im Jahr 2001 das deutsche Bildungsselbstverständnis nachhaltig erschüttert hat.

22 Jahre danach müssen wir feststellen: Nichts hat sich verbessert. Im Gegenteil: Schülerinnen und Schüler von heute sind sogar noch schwächer als jene des Schockjahrgangs. Beim Lesen und Rechnen sind die Rückstände etwa so groß wie die Leistungen eines gesamten Jahres, sprich: Die Jugendlichen hängen ein Jahr hinterher. Ein Jahr.

Nun wäre es ein Leichtes, diesen Abfall allein mit der Pandemie und den monatelangen Schulschließungen zu begründen (wie es viele versuchen werden), zumal auch die Leistungen vieler anderer Staaten deutlich nachgelassen haben.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

Doch das wäre zu einfach: Einen klaren Zusammenhang zwischen Länge der Schulschließungen und Abfall der Leistungen stellt die Pisa-Studie nicht fest.

Einen Unterschied macht jedoch, wie digitalisiert die Gesellschaft vorher schon war, welche Ausgangsbedingungen es für den Distanzunterricht gab, also: Ob Unterricht ohne Probleme online stattfinden konnte oder die Arbeitsblätter per Post kamen.

In Deutschland sei der Anteil versendeter Materialien viel höher gewesen als im OECD-Durchschnitt, heißt es. Es braucht nicht viel Fantasie, um hier eins und eins zusammenzuzählen (wenn man noch jemanden findet, der’s kann).

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

Die Befunde lesen sich wie eine Fortschreibung der vergangenen 20 Jahre: Die Bildungsungerechtigkeit bleibt stabil – und das ist ausnahmsweise kein Qualitätsmerkmal.

Es ist nach wie vor nicht gelungen, den Zusammenhang zwischen sozioökonomischer Herkunft und Bildungsniveau zu entkoppeln. Heißt: Akademikerinnen produzieren Akademiker, alles andere ist Glücksache. 

Alarmierend ist das nicht nur, weil der Anteil starker Schülerinnen und Schüler insgesamt sinkt, der schwacher aber zunimmt. Auch der Anteil der Schüler mit Migrationsgeschichte hat sich verdoppelt: Ein Viertel der Schülerschaft hat einen Migrationshintergrund, neun Prozent in erster Generation. Sie schnitten in der Studie deutlich schlechter ab, mehr als die Hälfte gibt an, zu Hause kaum oder kein Deutsch zu sprechen.

Das Bildungssystem steht vor dem Zusammenbruch

Es ist vor allem dieses Ergebnis, das jetzt die Pisa-Schockwelle von 2023 auslösen müsste. Denn diese Kinder treffen hier auf ein System, das ohnehin kurz vorm Zusammenbruch steht – zumindest in Bundesländern wie Berlin. Aber selbst Bayern hat inzwischen nicht mehr genug Lehrkräfte.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

Das sind die Schattenseiten des föderalen Bildungssystems, in dem jeder frei nach Gusto Lehrkräfte ausbilden konnte, ohne darauf zu achten, ob die Rechnung am Ende aufgeht.

Berlin, das viele Jahre bockig als einziges Land nicht verbeamtet hat, hat dadurch schätzungsweise 8000 Lehrkräfte an andere Bundesländer verloren, allein 2000 nach Brandenburg. Damit das niemand merkt, wurde der Grund für den Weggang einfach nicht erfasst. Nun ist niemand mehr übrig, der das ausgleichen könnte.

So treffen allein in Berlin 7500 ukrainische Kinder auf Schulen, in denen mehr als 700 Stellen gar nicht besetzt werden konnten und etwa ein Drittel der Lehrer nicht mehr als solche ausgebildet sind. Es gibt tatsächlich Schulen in dieser Stadt, an denen in manchen Fächern kein einziger ausgebildeter Lehrer mehr arbeitet.

Eigentlich wissen alle, wie es gehen könnte

Dabei wissen doch eigentlich alle, wie es gehen könnte: verpflichtende Vorschule, kleinere Klassen, mehr Zeit, bessere Ausbildung und Ausstattung, mehr Lehrkräfte, Sozialarbeiter, Entschlackung von Verwaltungsaufgaben, vernünftige Bezahlung für Fachkräfte ab der Kita.... Der Berg scheint schier unüberwindbar.

Kein Wunder also, dass in den Schulen und Kitas ab Mittwoch wieder gestreikt wird. Wahrscheinlich müssten sie mal mehrere Wochen einfach alles dicht machen, damit wirklich auch der Letzte kapiert, dass das System, und vor allem die Menschen dahinter, kurz vorm Zusammenbruch stehen. 

Die Realität sieht leider anders aus: Der Aufschrei wird vermutlich schnell verstummen. An die Bildungskatastrophe hat sich Deutschland ebenso gewöhnt, wie daran, dass die Bahn eben unpünktlich ist. In beiden Fällen dauert es Jahrzehnte, das wieder umzukehren.

Während sich die zuständige Ministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) noch immer mit den Ländern über ihr Startchancenprogramm streitet, kam sie vorsichtshalber gar nicht erst zur Vorstellung der Pisa-Studie. Frei nach ihrem Parteikollegen Christian Lindner hat sie vermutlich keine Lust, ihr Gesicht an die schlechte Nachricht pinnen zu lassen.

Mit Bildung gewinnt man keine Wahlen. Und mit schlechter erst recht nicht.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
false
showPaywallPiano:
false