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Ludgera Selting, Präsidentin des Verfassungsgerichtshofes und Robert Wolfgang Seegmüller, Vizepräsident des Verfassungsgerichtshofes befinden über die Gültigkeit der Berliner Wahl.

© picture alliance/dpa

Kontroverse um Berlin-Wahl: Die Wiederholung der gesamten Wahl ist juristisch bisher nicht begründet

Das Berliner Landesverfassungsgericht muss klare Beweise vorlegen - die vom Bundesverfassungsrecht gesetzten Hürden sind hoch. Ein Gastbeitrag.

Von
  • Antonio Leonhardt
  • Moheb Shafaqyar

Das Berliner Landesverfassungsgericht hat jüngst seine vorläufige Einschätzung im Wahlprüfungsverfahren zur Berlinwahl 2021 vorgetragen. Es erachtet die Wahlen vom 26.09.2021 für vollständig ungültig. Dabei missachtet das Gericht eine Vielzahl an Wahlprüfungsgrundsätzen.

Sollte es an dieser Einschätzung festhalten, würde es die chaotischen Verhältnisse in Berlin fortsetzen und selbst zum Teil des staatsorganisatorischen Problems werden. Auch der Wahlprüfungsausschuss des Bundestages scheint nun bezüglich der Berliner Wahlkreise bei der Bundestagswahl einen anderen Weg zu gehen. 

Um die Wahlfehler zu ermitteln, hat das Landesverfassungsgericht die Niederschriften von 2.256 Wahllokalen ausgewertet. Einen Schwerpunkt bildete die lange Wartezeit für Wählende, insbesondere wenn Wählende so ihre Stimmen noch nach den ersten medial verbreiteten Hochrechnungen abgaben. Bemerkenswerter Weise stellten diese feststellbaren Wahlfehler aber nach Ansicht der Richter*innen nur „die Spitze des Eisberges“ dar.

Ohne weitere Amtsermittlungen in Form von Zeugenbefragungen, weiteren Abfragen bei den Wahlbehörden oder sonstige Ermittlungen vorzunehmen, zweifelt das Gericht die Glaubwürdigkeit der Dokumentation der Wahlbehörden an. Die Ausermittlung der Wahlfehler war nach Einschätzung des Gerichts auch nicht entscheidend, da bereits die Vorbereitungshandlungen des Wahltages so unzureichend gewesen seien, dass eine ordnungsgemäße Wahl absehbar gar nicht zu gewährleisten war.

Dies widerspricht der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die von einer klaren Beweislastverteilung zu Gunsten des Bestands der Wahlen ausgeht. Die Wahlprüfungsorgane haben das Vorliegen eines Wahlfehlers von Amts wegen zu ermitteln. Lässt sich nicht aufklären, ob ein Wahlfehler vorliegt, kann die Wahlprüfbeschwerde keinen Erfolg haben.

Mit diesen Grundsätzen bricht das Landesverfassungsgericht mit seiner aus Mediensicht dankbar platzierten Formulierung von den bekannten Wahlfehlern als bloßer „Spitze des Eisbergs“. Das diffuse Gefühl etwas „sei bei den Wahlen nicht mit rechten Dingen zugegangen“ genügt nicht für die Feststellung von Wahlfehlern. In ganzen Bezirken wie beispielsweise in Treptow-Köpenick oder Lichtenberg blieb der Wahlvorgang schließlich auch nahezu beanstandungsfrei.

Das Landesverfassungsgericht ist nicht zur Beurteilung der Wahlorganisation berufen

Ebenso wenig vermag die Vorverlagerung der Prüfung auf die organisatorischen Wahlvorbereitungshandlungen überzeugen. Es obliegt allein der Wahlbehörde, über das hinreichende Maß an Wahlvorbereitungshandlungen zu befinden. Das Landesverfassungsgericht ist in seiner Kompetenz auf die Feststellung von Wahlfehlern beschränkt und nicht zur Beurteilung der Wahlorganisation berufen. Keinesfalls kann die Feststellung einer mangelhaften Wahlorganisation das Gericht von der Amtsermittlung tatsächlicher Wahlfehler entlasten.

Zahlreiche Wählerinnen und Wähler warteten im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg in einer langen Schlange vor einem Wahllokal.
Zahlreiche Wählerinnen und Wähler warteten im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg in einer langen Schlange vor einem Wahllokal.

© picture alliance/dpa

Erstaunlicherweise spielt der Grundsatz der Mandatsrelevanz für das Landesverfassungsgericht in seiner vorläufigen Einschätzung ebenfalls eine Nebenrolle. Mandatsrelevant ist ein Wahlfehler, wenn er sich im Rahmen einer potentiellen Kausalbetrachtung auf die Sitzverteilung des Parlaments ausgewirkt haben kann. Das Gericht greift dabei im Wesentlichen auf eine hypothetische Möglichkeit der Wahlbeeinflussung zurück. Nach Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts muss aber „eine nach der allgemeinen Lebenserfahrung konkrete und nicht ganz fernliegende“ Möglichkeit der Wahlbeeinflussung bestehen. 

Der Fortbestand der fehlerhaft gewählten Volksvertretung muss laut Bundesverfassungsgericht „unerträglich erscheinen“. 

Moheb Shafaqyar und Antonio Leonhardt

Das Gericht nimmt zudem keine Abwägung zwischen Korrektur- und Bestandsinteresse vor. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wurzeln die gegenläufigen Interessen von Wahlkorrektur und Bestandsschutz des Parlaments gleichermaßen im Demokratieprinzip und sind im Einzelfall in Ausgleich zu bringen. Der Fortbestand der fehlerhaft gewählten Volksvertretung müsse demnach „unerträglich erscheinen“.

Der Eingriff in den Bestand der Wahl darf nur so weit gehen, wie es durch den festgestellten Wahlfehler verlangt wird. Die Wahlwiederholung habe nur dort stattzufinden, „wo sich der Wahlfehler ausgewirkt hat, also in dem betroffenen Stimmbezirk, Wahlkreis oder Land.“

Das Berliner Gericht lässt zu viele Maßstäbe links liegen

In seiner Entscheidung zum negativen Stimmgewicht nahm das Bundesverfassungsgericht dabei sogar hin, dass „wenige Mandate“ betroffen sind, da hiervon nicht die Legitimation des Parlaments derart betroffen sei, dass sich eine sofortige Auflösung rechtfertigen ließe. Dies gilt insbesondere dort, „wo ein mandatsrelevanter Wahlfehler auf bestimmte Mandate begrenzt werden kann“. Sämtliche der vorgenannten Maßstäbe lässt das Gericht offenbar links liegen. 

Wenig reflektiert erscheint auch die Annahme des Gerichts, nur eine vollständige Wiederholungswahl würde dem Berliner Landesparlament wieder zu voller demokratischer Legitimität verhelfen. Eine Wiederholungswahl zwei Jahre nach der ursprünglichen Wahl ist aus demokratischen Gesichtspunkten nicht zwangsläufig eine bessere Alternative, wenn nicht sogar eine praktische Unmöglichkeit. Die demokratische Willensbildung von vor zwei Jahren lässt sich eben auch bei größten Anstrengungen im hier und jetzt nur höchst unvollkommen reproduzieren.

Schließlich ist auf das erhebliche Missbrauchspotential der vorläufigen Einschätzung zu verweisen. Diese öffnet der Provokation von Wahlfehlern durch interessierte Kreise und der gezielten Delegitimierung von Wahlen Tür und Tor. Besonders gefährlich ist dabei der Weg des Gerichts, die konkrete Feststellung von Wahlfehlern durch eine Bewertung der Wahlvorbereitungen und Zweifel an der Genauigkeit der Wahldokumentation zu ersetzen. Mutmaßungen und Volkes Meinung dürfen nicht die Amtsermittlung von Wahlfehlern ersetzen.

Was sich am Wahltag in Berlin abspielte, war eine in der Geschichte der Bundesrepublik beispiellose Pannenserie. Sie sollte allen Beteiligten die Bedeutung von Wahlen und guter Wahlvorbereitung erneut vor Augen führen. Dennoch lassen sich auch für diesen Ausnahmefall Rechtsprechungsleitlinien aus der reichen Kasuistik des Bundesverfassungsgerichts und der anderen Landesverfassungsgerichte entnehmen.  

Hiervon hat sich das Landesverfassungsgericht in seiner vorläufigen Einschätzung allerdings zu Gunsten diffuser Zweifel an der Legitimität der Wahl in den Augen der breiten Öffentlichkeit verabschiedet. Es bleibt zu hoffen, dass das Landesverfassungsgericht den Mut findet, seine vorläufige Einschätzung zu überdenken und seine Entscheidung konsequent an den etablierten Wahlrechtsgrundsätzen auszurichten. 

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