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Ein Polizist geht an einem Feuer auf einer Straße am Rande der Demonstration linker und linksradikaler Gruppen unter dem Motto „Demonstration zum revolutionären 1. Mai“ vorbei.

© picture alliance/dpa

Lehren aus der Silvester-Randale: Mehr Autorität wagen? Ja, aber intelligent und human

Die diffuse Ablehnung des Staates in der Silvesternacht war ein Alarmsignal. Demokratien müssen sich immer wieder erklären und legitimieren. Aber auch verteidigen.

Ein Kommentar von Caroline Fetscher

An Silvester ist allerhand erlaubt, was sonst verboten ist. Leute dürfen Vorgärten und Straßen in private Abschussrampen für Raketen umwandeln. Sie dürfen Krach nach Mitternacht machen, mit Pyrotechnik zündeln, tonnenweise schwelenden Abfall hinterlassen und vieles mehr.

Regeln sind temporär außer Kraft gesetzt, Schäden werden einkalkuliert bei Feuerwehr, Polizei, Notaufnahmen und Müllabfuhr. Das ganze Szenario signalisiert staatliche Duldung unter Verhütung von Exzessen – wie sie dann unlängst, in der Nacht von Sonnabend auf Sonntag in Berlin, dennoch entstanden. Beim Blick auf die Silvesternacht als Symptom zeigt sie sich womöglich als produktives Alarmsignal für die Demokratie.

Kulte, die als Ventile dienen, quasi als Entschädigung für das Unbehagen in der Kultur, kannten und kennen viele Gesellschaften. Bei den römischen Saturnalien gab es Trinkgelage, sonst untersagte Glücksspiele und Lotterien wurden gestattet, Standesunterschiede schienen vorübergehend aufgehoben. Beim japanischen Akutai-Festival wird in Gegenwart von Geistlichen um die Wette geflucht; Leute sind aufgefordert, Dampf abzulassen, was Wut und Spannungen abbauen und Glück bringen soll.

Die eklatanten Rechtsbrüche haben Sinn und Funktion des Feierns sabotiert.

Caroline Fetscher

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Silvesterfest als Ventil

Auch das Silvesterfest bietet ein Ventil. Kontrolliert darf sich beim Böllern und Dröhnen Aggression entladen, begleitet von der Ästhetik der farbigen Funkenregen am Nachthimmel. In China, heute dem größten Exporteur der Knallkörper, war das Schwarzpulver einst erfunden worden. Damit ließen sich, so der Glaube, böse Geister austreiben, aber auch, so die faktische Praxis, Feinde bekämpfen.

Polizeibeamte stehen in Berlin am Silvesterabend hinter explodierendem Feuerwerk.

© picture alliance/dpa/TNN

Silvesterlärm erinnert nicht zufällig an die Detonationen und Explosionen im Krieg. In den USA bitten einige Gemeinden aus Rücksicht auf Veteraninnen und Veteranen, die etwa in Afghanistan waren, seit Jahren um Verzicht auf das Geräuschgewitter. In der Silvesternacht 2022/23 hat sich nicht nur kontrolliert Aggression entladen, sondern auch unkontrolliert.

Besonders auffällig war das in Berliner Kiezen wie Neukölln, wo Jugendliche brutal Feuerwehrleute und polizeiliche Einsatzkräfte attackierten. Die eklatanten Rechtsbrüche haben Sinn und Funktion des Feierns sabotiert, das Entsetzen ist groß, die Ratlosigkeit auch.

Offensichtlich löste die vorübergehende Freizügigkeit bei Hunderten junger Leuten Reflexe aus wie diese: „Hier geht unsere Wut in der allgemeinen Enthemmung auf! Hier können wir ungehindert Dampf ablassen! Jetzt gilt kein Gesetz, kein Gewissen!“ Taucht dann aber die Polizei als Repräsentant von Gesetz und Gewissen auf, steigert das Wut und Enthemmung.

Woher kommt die Wut?

Staatliche Kräfte erscheinen ihnen als Spielverderber und werden angegriffen als Sündenböcke. Den Ursprung ihrer Wut können die jungen Leute – drei Viertel der Festgenommenen stammen aus migrantischen Familien – weder reflektieren noch analysieren. Ein erheblicher Teil der mutmaßlichen Täter kommt aus Regionen, in denen es tatsächlich den Kriegslärm gab und gibt, an den der Silvesterkrach erinnert: Afghanistan oder Syrien.

Viele, darauf machen Stimmen wie die von Ahmad Mansour zu Recht aufmerksam, stammen aus autoritären und dysfunktionalen Staaten, bei vielen gehört Gewalt traditionell zur Erziehung. Da gelten libertinäre Verhältnisse als „schwach“ und verachtenswert. Die Botschaft, dass der demokratische Rechtsstaat enorme Chancen und Freiheiten bietet, ist bei ihnen nicht angekommen, oder sie haben sie nicht angenommen. Das muss sich drastisch ändern, will die Demokratie diese Kinder nicht auf Dauer verlieren.

Feuerwehrmänner löschen an der Berliner Sonnenallee einen Reisebus, der in der Silvesternacht von Unbekannten angezündet worden war.

© picture alliance/dpa

Leute wollen, heißt es oft, doch nur mal „Dampf ablassen“. Auch angesichts der Instant-Hooligans der Silvesternacht fallen solche Sätze in privaten Kreisen, nicht als Entschuldigung, sondern als Beobachtung, als Versuch, das Geschehen in eine Formel zu fassen. Aber woher kommt der Dampf? Warum brechen solche Krawalle jetzt aus? Wie kam es dazu, dass Silvestertrubel als Provokation begrüßt und zur Sabotage staatlicher Einsatzkräfte benutzt wurde?

Beim Blick auf die Silvesternacht als Symptom zeigt sie sich womöglich als produktives Alarmsignal.

Caroline Fetscher

Neben dem chronischen Mangel an Vermittlung demokratischer Werte durch Schulen spielt akut ein zweiter, drastischer Faktor eine Rolle: die Pandemie. Zwei Jahre permanenter, gigantischer globaler Krise und Unsicherheit haben sämtliche Gesellschaften belastet und beeinträchtigt. Staatliche Verantwortliche mussten täglich dazulernen, Institutionen mussten improvisieren.

Angriffe auf die Demokratie

Dabei waren kommunikative Desaster teils kaum vermeidbar. Sie erweckten, insbesondere in demokratischen Staaten, den Eindruck von Schwäche und fehlender Koordination, vom Autoritätsverlust des parlamentarischen Systems. Die jungen Täter der Silvesternacht artikulieren allenfalls diffuse, unpolitische Ablehnung von Staat und Demokratie. Es ist fraglich, ob sie eigene Ziele oder Konzepte nennen oder etwas über das Gewaltmonopol des Staates sagen könnten.

Andere Akteure nutzen den vermeintlichen und vorhandenen Autoritätsverlust des demokratischen Staates offen und politisch für sich. Einige in linken oder grünen Bewegungen sinnieren über die Frage, ob demokratische Prozesse genug Zeit lassen, das Klima zu retten. „Reichsbürger“ erklären die Bundesrepublik für nicht existent und rekrutieren ihre Anhängerschaft sogar in den zentralen Institutionen des Staates selbst.

Vom Kreml wurde der Rückzug der Demokratien aus Afghanistan ebenso beobachtet wie deren Ächzen unter der pandemischen Lage und die Unzufriedenheit in demokratischen Gesellschaften. Was für ein günstiger Zeitpunkt für Angriff auf eine Demokratie – auf die Demokratie.

Demokratien sind fähig zur Selbstkritik, das gehört zu ihren größten Stärken, zu den Bedingungen ihrer Beweglichkeit und Lebendigkeit. Aber Demokratien müssen auch proaktiv für sich eintreten, sich erklären, sich legitimieren, sich verteidigen. Überall. Vom Schulparlament, das jede Schule haben und ernst nehmen sollte, bis hin zu all den Institutionen, die verantwortlich dafür sind, dass nur der Rechtsstaat, sonst nichts und niemand, ein Recht auf Gewaltausübung hat.

Viel zu lange wurde viel zu schwach reagiert, auch auf Gewalt in Familien, die Miniaturautokratien sind, auch auf vermeintlich harmlose Reichsbürger-Prinzen, die „das System“ ablehnen. Den Demokratien ließe sich, nach Willy Brandt, sagen: Mehr Autorität wagen, freilich intelligente und humane. Die einzige, die überzeugt.

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