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Protest gegen die Rentenreform in Rennes mit einem Plakat, das Premierministerin Elisabeth Borne, Präsident Emmanuel Macron and Arbeitsminister Olivier Dussopt zeigt. 

© DAMIEN MEYER/AFP

Rentenreform in Frankreich: Mutige Überzeugungstat mit offenem Ausgang

Präsident Macrons neuer Anlauf ist ein Wagnis – fast alle lehnen den Renteneintritt mit 64 Jahren ab. Gut, dass er es trotzdem versucht.

Ein Kommentar von Andrea Nüsse

Für deutsche Ohren klingt es harmlos, in Frankreich gleich es einer Kamikaze-Aktion: die Anhebung des Rentenalters von 62 auf 64 Jahre innerhalb der nächsten sieben Jahre. Diese bereits abgespeckte Rentenreform hat Premierministerin Elisabeth Borne am Dienstagabend im Parlament vorgestellt.

Damit ist „die Schlacht eröffnet“ – wie französische Medien schreiben: Denn laut Umfragen lehnen bis zu zwei Drittel der Franzosen die Anhebung des Rentenalters ab und haben seit 1995 noch jeden Versuch vereitelt, an den recht vorteilhaften Regelungen etwas zu verändern.

Bis auf die konservativen „Républicains“ lehnen alle Parteien im Parlament das ab – und sogar die eigentlich immer zerstrittenen Gewerkschaften haben unisono für den 19. Januar zu ersten Massenprotesten aufgerufen.  

Umfragen beeindrucken Macron nicht

Präsident Emmanuel Macron geht mit der Reform ein großes Wagnis ein. Die Proteste der Gelbwesten, die zeitweilig das Land lahmgelegt und andere Reformvorhaben gekippt hatten, sind noch in guter Erinnerung. Aber er ist von der Notwendigkeit überzeugt und will als Reformer in die Geschichtsbücher eingehen.

Von Umfragen lässt er sich in solchen Fällen nicht beeindrucken, sondern glaubt an seine Vision und Überzeugungskraft: So hatte er seinen ersten Präsidentschaftswahlkampf mit dem unpopulären Thema „Mehr Europa“ bestritten und die Kolonialisierung Algeriens als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ bezeichnet – um durch eine neue Erinnerungskultur endlich das Verhältnis zu den Nachfahren von Algeriern in der französischen Gesellschaft zu normalisieren.

Dass er es jetzt, angeschlagen und ohne Mehrheit im Parlament, noch einmal wissen will, ist durchaus beeindruckend. Um die Republikaner ins Boot zu holen, hat er Kompromisse und Abstriche gemacht wie die Heraufsetzung des Rentenalters nur auf 64 statt 65 Jahre. Zur sozialen Ausgewogenheit soll beitragen, dass – wie ebenfalls von den Republikanern gefordert, die Renten für Mindestlöhner auf 1200 Euro brutto angehoben werden. Premierministerin Borne gab sich offen, auch in der Parlamentsdebatte noch Anregungen aufzunehmen.

Das ist ein neuer Ton. Der notwendig ist, um die „Provokation“ abzumildern und möglichst viele Stimmen der Republikaner zu gewinnen. Denn es ist schwer vorstellbar, dass die Premierministerin dieses Gesetz ohne Abstimmung im Parlament verabschiedet – wie es Artikel 49.3 der Verfassung erlaubt und wovon sie nicht nur beim Budget schon Gebrauch gemacht hat. Dann wäre es nicht mehr mutig, sondern gefährlich autoritär.

Der Kampf der Narrative jedenfalls hat begonnen: Setzt sich das Regierungsnarrativ durch, dass dies nötige und sozial ausgewogene Mehrbelastungen sind (auch privilegierte Gruppen wie Polizisten und Lokführer sollen zwei Jahre länger arbeiten)?

Oder überzeugen Linke, Gewerkschaften und Rechtspopulisten die Menschen, dass dies erneut eine Reform zugunsten „der Reichen“ und zulasten von früh ins Arbeitsleben eintretenden Arbeitern ist. Die Stimmung in Frankreich ist aufgewühlt, die wirtschaftlichen Sorgen sind groß – aber auch die Erschöpfung. Selten war Politik so spannend.

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