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Eine Lehrerin.

© Patrick Pleul/dpa

Es gibt keine Tabus mehr: Kommission macht brisante Vorschläge gegen Lehrermangel

Am Freitag gab die Wissenschaftliche Kommission ihre Stellungnahme für die Bildungsminister ab, wie man den Lehrermangel bekämpfen kann. Einige der Empfehlungen lösten sofort Gegenwehr aus.

| Update:

Bei der Bekämpfung des Lehrkräftemangels gibt es keine Tabus mehr. Dies zeigen die mit Spannung erwarteten Empfehlungen der Bildungsforschung, die am Freitagmittag veröffentlicht wurden. Von der Einschränkung der Teilzeitmöglichkeiten bis hin zu Mehrarbeit, Hybridunterricht und größeren Klassen fehlte keine der bereits im Vorfeld befürchteten Gegenmaßnahmen.

Von einer „fast dramatischen Situation“ beim Defizit an Pädagogen sprach der Kieler Erziehungswissenschaftler Olaf Köller, unter dessen Co-Vorsitz die Ständige Wissenschaftliche Kommission (SWK) die Stellungnahme für die Kultusministerkonferenz (KMK) erarbeitet hatte. Mitte des Jahres folgt ein ausführliches Gutachten.

Anlass für die Eile bei der Stellungnahme ist die Zuspitzung des Lehrermangels in fast allen Bundesländern. Je nach Prognose fehlen bis zum Jahr 2030 zwischen 30.000 und 40.000 Lehrkräfte. Selbst bislang gut versorgte Länder wie Bayern stellen dieses Jahr Hunderte Quereinsteiger ein und werben offensiv in anderen Bundesländern mit Zulagen oder höheren Gehältern. Länder wie Berlin haben bereits seit Jahren Tausende Quereinsteiger eingestellt.

30.000
Lehrkräfte fehlen bundesweit bereits im Jahr 2030 – mindestens.

Brandenburg greift ab Sommer sogar zu Lehrkräften mit beliebigen Studienfächern und ohne Masterabschluss, die – nach kurzen Weiterbildungen – verbeamtet werden. Köller lehnte dies bereits im Vorfeld aus Qualitätsgesichtspunkten als nicht verantwortbar ab. Die KMK-Präsidentin, Berlins Bildungssenatorin Astrid-Sabine Busse (SPD), sagte, das Brandenburger Vorgehen dokumentiere „die Verzweiflung“.

Der Lehrermangel betrifft die Lebenschancen und Integrationschancen von Schülerinnen und Schülern.

Felicitas Thiel, Vorsitzende der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission

Im Hinblick auf die Sicherung der Qualität sei es viel wichtiger, die vorhandenen Ressourcen besser auszunutzen. Die Kommission nennt das „Erschließung von Beschäftigungsreserven“. Dazu könnte gehören, dass – auf freiwilliger Basis – der Eintritt in die Rente verschoben wird. Das wird bereits in einigen Bundesländern wie Berlin praktiziert. Auch die bislang gewährten Stundenermäßigungen für ältere Lehrkräfte könnten überprüft werden.

100.000
Lehrkräfte unterrichten weniger als 50 Prozent der regulären Stundenzahl.

Das größte Potenzial sehen die Forscher in der Einschränkung der bislang sehr großzügig gehandhabten Teilzeitregelungen: Fast jede neunte Lehrkraft, insgesamt knapp 100.000 von rund 950.000 Lehrkräften, unterrichten nur 50 Prozent der regulären Stundenzahl. Dies erklärte die Co-Vorsitzende der SWK, Felicitas Thiel. Nicht alle täten dies, weil sie kleine Kinder oder Pflegebedürftige zu versorgen hätten.

Thiel machte auch nochmals das Ausmaß des Mangels deutlich. Besonders in den Grundschulen und bis zur 10. Klasse fehlen die Lehrkräfte, vor allem in Mathematik und den naturwissenschaftlichen Fächern sowie in den sonderpädagogischen Förderschwerpunkten und Kunst. In Nordrhein-Westfalen werde im Jahre 2030 der Bedarf an Physiklehrkräften nur zu knapp einem Fünftel gedeckt sein, sagte Thiel mit Hinweis auf die Forschungsergebnisse des Bildungswissenschaftlers Klaus Klemm. Gleichzeitig steige der Anteil an Schülerinnen und Schülern, die die Mindeststandards in den Kernfächern verfehlten.

Der Lernerfolg hänge aber von der fachlichen und fachdidaktischen Qualifikation der Lehrkräfte ab. Insofern betreffe der Lehrermangel die Lebenschancen und Integrationschancen von Schülerinnen und Schülern, die aktuell und in den kommenden Jahren die Schule besuchen, betonte Thiel. Es helfe daher wenig, jetzt vor allem den Ausbau von Studienplätzen zu fordern, denn es dauere „mindestens sechs Jahre, bis diese Studierenden als vollwertige Lehrkräfte im System ankommen“.

Die Studiendauer hat sich aktuell sogar noch verlängert – und das liegt nicht nur an der Pandemie. Felicitas Thiel, die an der Freien Universität Berlin lehrt, wies darauf hin, dass 30 Prozent der Berliner Lehramtsstudierenden im Bachelor bereits an einer Schule arbeiten. Dann müsse man sich nicht wundern, „dass die Studienzeiten sich verlängern – mal abgesehen davon, dass diese Studierenden noch kaum etwas von Fachdidaktik und Pädagogik gehört haben“, fügte Thiel hinzu.

Jeder dritte Berliner Bachelor-Student arbeitet in der Schule

Das war nicht zuletzt ein Seitenhieb auf den Berliner Sozialdemokraten und Bildungsberater Mark Rackles (SPD), der der Kultusministerkonferenz bei der Lehrkräfteversorgung Totalversagen vorwirft. Rackles hatte in seiner Zeit als Berliner Bildungsstaatssekretär das Programm „Unterrichten statt kellnern“ angestoßen und damit die Universitäten gegen sich aufgebracht, die vor einer Verlängerung des Studiums warnten.

Auch Ties Rabe nahm indirekt Bezug auf Rackles und andere, die der Kultusministerkonferenz die Schuld am Lehrkräftemangel zuweisen, indem er auf die schwache Geburtenrate in den Jahrgängen der jetzt 20- bis 30-Jährigen hinwies. Daran trage die KMK keine Verantwortung. Es seien diese Jahrgänge, die jetzt in den Lehramtsstudiengängen fehlten.

Die Ständige Wissenschaftliche Kommission greift bei ihren Empfehlungen auch Maßnahmen auf, die in einigen Bundesländern bereits eingeübt sind. Besonders Berlin hat schon vieles ausprobiert, weil hier der Lehrkräftemangel als Folge der Nichtverbeamtung besonders früh einsetzte.

Insbesondere wurde die Quereinsteigerausbildung erwähnt, die in Berlin weit entwickelt ist. Zwar fehlt für das Berliner Studienzentrum bisher die Rechtsgrundlage, aber die Strukturen haben sich bewährt.

Kommission wirbt für hybriden Unterricht

Ganz anders die Strategie in Nordrhein-Westfalen, das die Pflichtstundenzahl für Lehrkräfte hochsetzte. Auch darauf nahm die SWK Bezug, wobei es um die Frage ging, wie diese Mehrarbeit kompensiert werden könnte. Von Arbeitszeitkonten riet Köller ab: Es sei angesichts der auf lange Sicht fehlenden Lehrkräfte gar nicht absehbar, wann die Zusatzstunden auf den Konten abgebummelt werden könnten. Daher rate er dazu, die Stunden stattdessen zusätzlich zu vergüten.

Ein starkes Mittel gegen den Lehrermangel wäre es auch, einen Teil des Unterrichts für ältere Schülerinnen und Schüler hybrid anzubieten, führt die SWK aus. Ebenso könnten sich die Jugendlichen einen Teil des Stoffs auch im Selbststudium aneignen. Die entsprechende Lehrkraft könnte sich in dieser Zeit dann um die jüngeren Schüler kümmern.

Das einzige „Tabu“, das es gebe, sei für ihn, dass Bildungsministerien in anderen Bundesländern gezielt Lehrkräfte abwerben, sagte Hamburgs Bildungssenator Ties Rabe (SPD) – ein Seitenhieb auf Bayern, das dergleichen ankündigte. Was abgesehen davon alles denkbar wäre, zählte die SWK am Freitag ebenfalls auf:

  • Erleichterte Anerkennung von im Ausland erworbenen Abschlüssen
  • Abordnung von Lehrkräften an Schulen mit besonderem Bedarf
  • Entlastung der Lehrkräfte von Organisations- und Verwaltungsaufgaben
  • Nachqualifizierung von Lehrkräften, die wenig nachgefragte Fächer studiert haben, in den Mangelfächern
  • Entlastung und Unterstützung von Lehrkräften durch Studierende oder andere Kräfte
  • Höhere Klassenfrequenzen
  • Vorbeugende Maßnahmen zur Gesundheitsförderung, wie Achtsamkeitstrainings, Mental-Health-Angebote, Coaching und Supervision
  • Kompetenztraining zur Klassen- und Gesprächsführung

Insbesondere die Vorschläge zur Mehrarbeit und größeren Klassen lösten sofort harsche Kritik aus. Der Bundesvorsitzende des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE), Gerhard Brand, sprach von einem „Offenbarungseid der Bildungspolitik“.

Allen, die in der Hoffnung auf Besserung seit Monaten und Jahren „bis an die Grenzen der Belastbarkeit und darüber hinaus“ arbeiteten, werde „jede Vision geraubt“. Es werde nicht besser, „sondern schlimmer“.

Die Kultusministerinnen und -minister hätten den Lehrkräftemangel „jahrelang kleingerechnet“, kritisierte die GEW-Bundesvorsitzende Maike Finnern. Die jetzt vorgelegten Maßnahmen seien „ein Ausdruck der Hilfslosigkeit“.

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