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Die Stadt Van am gleichnamigen See gilt unter Historikern als das „Epizentrum des Völkermordes“ an den Armeniern im Jahr 1915.

© imago/imagebroker

Ärger über Joe Bidens Völkermord-Erklärung in Anatolien: Das vergessene Massaker

In Anatolien schafft Joe Bidens Erklärung zum Völkermord an den Armeniern Verbitterung, weil Massaker an den Muslimen ausgeblendet werden.

Ein trostloser Ort ist die osttürkische Stadt Van trotz ihrer spektakulären Naturkulisse von Bergen und See, und das liegt nicht nur an dem Erdbeben vor zehn Jahren. Von der dreitausendjährigen Kulturstadt ist nicht viel übrig, seit im April 1915 blutige Massaker zwischen Armeniern und Muslimen hier der osmanischen Regierung den Vorwand zur Vertreibung der Armenier aus ganz Anatolien lieferten – das „Epizentrum des Völkermordes“ war Van, wie der Historiker Yektan Türkyilmaz formuliert.

Heute leben keine Armenier mehr in Van, und die Erklärung des US-Präsidenten Joe Biden zum Völkermord wurde hier mit Verbitterung aufgenommen. „Die Welt blickt völlig einseitig auf unsere Leidensgeschichte“, sagte Ikram Kali, Chefredakteur der Lokalzeitung „Stimme von Van“. Das Leiden der muslimischen Bevölkerung in jenen Jahren werde ausgeblendet.

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Das sei der Grund dafür, dass viele Türken so trotzig auf Armenier-Resolutionen reagieren, sagt Sinan Ülgen, Direktor der Denkfabrik Edam in Istanbul: „Wenn der Westen über 1915 doziert, dann geht es immer ausschließlich um das Schicksal der christlichen Armenier, ohne jedes Mitgefühl mit den muslimischen Türken, die damals auch in großer Zahl umkamen.“ Ülgens Familie stammt ebenfalls aus Van: Seine Großmutter wurde 1915 mit fünf Jahren zum Waisenkind, als ihre Eltern von armenischen Partisanen massakriert wurden. Erinnert habe sie sich später vor allem an den langen Trek quer durch Anatolien, mit dem sie nach Istanbul gebracht wurde, erzählt Ülgen; ihre eigene Großmutter sei unterwegs an den Strapazen gestorben, sie sei dann im Waisenhaus aufgewachsen.

Die Geschichte ist ein Spiegelbild des Schicksals, das Hunderttausenden Armeniern damals widerfuhr: massakriert, vertrieben, auf Umsiedlungsmärschen gestorben. Doch wenn er westlichen Kollegen von seiner Großmutter erzählen wolle, werde ihm das als Versuch zur Relativierung oder Leugnung des Völkermords ausgelegt, klagt Ülgen; dabei schließe die eine Geschichte die andere doch nicht aus. „Mit dieser Haltung bewirkt man nur, dass die Menschen sich verschließen.“ Ihm gehe das selbst so, sei „der internationale Blickwinkel doch so einseitig, dass er meine eigene Lebensgeschichte negiert – von der ich doch weiß, dass sie wahr ist“.

Es sind entsetzliche Geschichten

Warum im Westen nur das Leiden der Armenier gesehen werde, fragt auch Ikram Kali in Van. Seine Familie, erzählt Kali, floh 1915 vor den russischen Truppen und armenischen Partisanen aus Van. „Monatelang waren meine Großeltern zu Fuß auf der Flucht durch Anatolien, über ganz Kleinasien ist die Familie zerstreut worden, meine Großeltern hat es schließlich nach Kirkuk verschlagen“, erzählt er. „Dort kamen meine Mutter und ihre Geschwister zur Welt, aber sie lebten elend als Flüchtlinge. Nach dem Krieg sind sie nach Van zurückgekehrt, aber der Rückweg war weit und beschwerlich und dauerte wiederum Monate. Als sie endlich in Van ankamen, war da nichts mehr, die Stadt zerstört und keiner mehr dort – da wurden sie nur von neuem Elend erwartet.“

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Kali gründete in Van einen Verein für örtliche Geschichte, der die Erinnerungen muslimischer Bewohner an 1915 aufzeichnete. Entsetzliche Geschichten sind es – von abgesägten Köpfen, zerstückelten Säuglingen und Massakern an ganzen Dörfern durch ihre langjährigen Nachbarn aus dem nächsten Dorf. Die internationale Öffentlichkeit tue der Vergangenheitsbewältigung in der Türkei einen Bärendienst, wenn sie diesen Teil ausblende, sagt Denkfabrik-Direktor Ülgen. „Das heißt nicht, dass wir auf einer Skala persönlicher Tragödien wetteifern sollten“, sagt er. „Im Gegenteil, wir sollten alle aufrichtiger sein und die Tragödien anerkennen, die all diesen Menschen widerfahren sind – vor allem den Armeniern, gewiss, aber eben nicht nur ihnen.“

Mit Wehmut erinnern sowohl Kali als auch Ülgen an Hrant Dink, den armenisch-türkischen Vorkämpfer einer Versöhnung zwischen Armeniern und Türken, der Resolutionen von Drittstaaten als kontraproduktiv ablehnte und auf gegenseitiges Verständnis und Mitgefühl von Türken und Armeniern setzte. „Bei der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit sage ich von Herzen“, zitiert Kali eine bekannte Äußerung von Dink: „Wen immer die Armenier damals getötet haben, Türken oder Muslime – ich teile den Schmerz ihrer Familien, und zwar aus tiefstem Herzen.“ Doch Hrant Dink wurde 2007 ermordet, und seither sind beide Seiten in ihrem Schmerz wieder entzweit.

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