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Besonders zurückhaltend waren auch Anhänger von Joe Biden nach dessen Wahlsieg nicht.

© Mark Makela, Reuters

Joe Biden ruft zur Einheit auf: Die Republikaner sitzen in der Versöhnungsfalle

Joe Biden will die Nation nicht spalten, sondern einen. Das klingt honorig. Keiner kann ernsthaft gegen Versöhnung sein. Oder doch? Ein Kommentar

Ein Kommentar von Malte Lehming

In vielen Zeitungen lautete am Montag die Schlagzeile: Joe Biden ruft die Amerikaner zur Versöhnung auf. Denn das hat Tradition in Amerika: Der Wahlsieger verwandelt sich in den künftigen Staatsmann, will das gesamte Land repräsentieren, die Wunden der zuvor erbittert geführten Auseinandersetzung heilen.

„Ich werde genauso hart arbeiten für diejenigen, die nicht für mich gestimmt haben, wie für diejenigen, die für mich gestimmt haben“, verspricht Biden. Und: „Ich habe versprochen, ein Präsident zu sein, der nicht spaltet, sondern eint. Geben wir uns jetzt gegenseitig eine Chance.“

Das klingt honorig, kein Mensch kann ernsthaft gegen Versöhnung sein. Oder doch? Was heißt es konkret, wenn Anhänger von Joe Biden und Donald Trump sich jetzt „gegenseitig eine Chance geben“ sollen? Welche Chance wollen die Demokraten den Republikanern geben? Wollen sie als Wahlsieger auf Klimaschutz und „Green New Deal“ verzichten, auf Steuererhöhungen und ein liberales Einwanderungsrecht, auf Obamacare und Gesetze gegen die Diskriminierung von Minderheiten? Schließlich tritt der neu gewählte Präsident mit dem Vorsatz an, nicht zu spalten, sondern zu einen. Wohl kaum.

Kein Versöhnungsappell kann die ganz realen und fundamentalen politischen Differenzen zwischen den Lagern beseitigen. Daher drängt sich der Verdacht auf, dass solche Appelle eine strategische Komponente haben. Der Gegner soll sich fügen, das Kriegsbeil begraben werden. Damit wird Opposition delegitimiert. Wer weiter Dissens betont, artikuliert nicht nur eine andere Meinung, sondern vertieft erneut die Spaltung.

Die neuen Machtverhältnisse sollen akzeptiert werden

Auch in historischer Perspektive diente die Versöhnungsrhetorik oft dazu, neu geschaffene Machtverhältnisse als endgültig zu akzeptieren. Legendär sind die Worte Abraham Lincolns, mit denen er im März 1865, kurz vor Ende des blutigen Bürgerkrieges, den Südstaaten die Hand entgegenstreckte: „With malice toward none“ (ohne Boshaftigkeit gegen irgendjemanden).

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Am Ende seiner zweiten Inaugurationsrede ergänzte er diesen Satz: „Lasst uns das Werk vollenden – die Wunden der Nation zu verbinden; für den zu sorgen, der den Kampf geführt hat, seine Witwe, seine Waise – alles zu tun, was einen gerechten und dauerhaften Frieden unter uns und mit allen Nationen herbeiführen und nähren kann.“ Lincolns Truppen hatten den Bürgerkrieg gewonnen, jeder weitere Widerstand sollte amoralisch wirken. Kurz nach dieser Rede wurde Lincoln ermordet.

Wenn Versöhnungsappelle von einem Machtgefälle begleitet sind, verursachen sie ambivalente Reaktionen. Da ist zum einen der durchaus löbliche Wille, die Einheit der Nation herstellen zu wollen, Streit zu beenden, negative Gefühle wie Verachtung und Hass einzudämmen. Der Impuls dahinter orientiert sich oft – zumal in den USA – an religiösen Vorbildern. „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun", sagt Jesus am Kreuz. Im Vaterunser beten Christen: „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.“

Versöhnung braucht auch Buße und Beichte

Doch in „Versöhnung“ steckt das Stammwort „Sühne“. Versöhnung kann nicht einfach erwartet, dekretiert oder gar eingeklagt werden. Echte Versöhnung braucht Buße, Beichte und Verzeihen.

Wenn ein Weißer an einen Schwarzen appelliert, endlich das Thema Rassismus zu beenden und sich miteinander zu versöhnen, ist das anmaßend, weil dadurch die unterschiedlichen Erfahrungen verschleiert würden. Wer in Versöhnungsaufrufen die Machtfrage ignoriert, vergrößert unter Umständen das Machtgefälle.

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Versöhnung einzufordern, ohne den anderen um Verzeihung zu bitten, ist leicht. Als George W. Bush im Dezember 2000 nach wochenlangem juristischen Tauziehen gegen Al Gore gewonnen hatte, versprach auch er, die Wunden heilen und Präsident aller Amerikaner sein zu wollen. „Ich danke Vizepräsident Gore für einen Wettkampf, der geistreich geführt wurde und in Würde endete“, sagte Bush. Viele Demokraten und Anhänger Gores, die Bush vorwarfen, die Wahl gestohlen zu haben, empfanden dessen Lob als Ohrfeige.

Die Dämonisierer – das sind stets die anderen

Man kennt das vom Sport. Eine der größten Demütigungen an die Adresse der Verlierer ist die Bemerkung, sie hätten fantastisch gekämpft und ihr Bestes gegeben.

Im politischen Raum hat jede Anrufung der Moral auch instrumentellen Charakter. Wenn Biden den Beginn seiner Präsidentschaft als „Anfang vom Ende der düsteren Ära der Dämonisierung in Amerika“ versteht, richtet sich sein Vorwurf nicht an Demokraten, die Anhänger Trumps als Rassisten, Sexisten und Faschisten tituliert hatten. Davon wird er sich weder distanzieren, noch wird er sich dafür entschuldigen. Die Dämonisierer – das sind stets die anderen.

Joe Biden ruft die Amerikaner zur Versöhnung auf: Viele Republikaner wissen, dass allein sie damit gemeint sind. Ihr Ton soll sich mäßigen, mit dem Wahlergebnis sollen sie sich abfinden. Einige werden deshalb vor Wut die Fäuste ballen. In einem zerrissenen Land vergrößern selbst Versöhnungsappelle die Kompromissunfähigkeit.

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