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Die Reformpolitik der Basis erläutern: Gerhard Schröder bei einer SPD-Regionalkonferenz im April 2003 in Bonn.

© Bernd Thissen/dpa

15 Jahre Agenda 2010: Das Leiden der SPD am eigenen Erbe

Merkels Wiederwahl als Kanzlerin fällt ausgerechnet auf den 15. Jahrestag von Schröders Agenda-Rede. Warum sich die SPD mit der Erinnerung schwer tut.

Von Hans Monath

Es wirkt ein bisschen wie verkehrte Welt, dass CDU und SPD mit einer Laune des Kalenders so verschieden umgehen: Die Wiederwahl von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) am Mittwoch fällt auf den 15. Jahrestag jener Rede, in der SPD-Kanzler Gerhard Schröder am 14. März 2003 die Agenda 2010 verkündete. Und während die CDU-Spitze nach Analogien zwischen mutigen Aufbrüchen von damals und von heute sucht, macht zumindest die Spitze der SPD kein Aufhebens von der damaligen Reformpolitik.

CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer würdigte "ein Datum, das einen gewissen Symbolcharakter hat". Schröder, so die CDU-Politikerin, habe damals eine Phase wichtiger Reformen eingeleitet, die eine wesentliche Grundlage für die Erfolge Deutschlands in den vergangenen Jahren gewesen seien. Auch in der neuen Regierung gelte es unter anderen Bedingungen nun wieder, sich "mit aller Kraft und sehr schnell" Reformen vorzunehmen.

Eine ähnliche Würdigung aus dem Willy-Brandt-Haus blieb aus – an zu viele Wunden scheint die Agenda-2010-Politik in der Partei noch immer zu rühren. Viele Genossen machen sie für den massiven Vertrauensschwund in ihre Partei seit der Schröder-Zeit und das schlechte Abschneiden bei vielen Bundestagswahlen zumindest mitverantwortlich.

Zahlreiche Genossen liefen über

"Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abfordern müssen", erklärte der ein halbes Jahr zuvor erst wiedergewählte SPD-Kanzler damals im Bundestag – und so kam es dann auch. Kern des Programms war der Wechsel von der Sozialhilfe zu Hartz IV. Viele Ökonomen preisen Schröders Reformen noch heute dafür, dass sie die Arbeitslosenzahlen dezimierten und die Wirtschaft eines Landes in Schwung brachten, das zuvor als "kranker Mann Europas" verspottet worden war. Doch das Gesetzeswerk brachte auch soziale Härten, schleifte Sicherheiten, auf die viele Bürger vertraut hatten. Bis in die Mittelschicht hinein wuchs die Angst vor dem sozialen Abstieg, für die Kritiker fortan die Sozialdemokraten als Verursacher anklagten.

Im Jahr 2003 konnte Schröder seine Partei zwar zunächst noch zu Gefolgschaft zwingen – eine Parteitagsmehrheit gab seiner Reformpolitik Rückendeckung. Doch auch innerhalb der SPD wurde die Kritik daran immer lauter. Eine der Wortführerinnen der Agenda-Angreifer in der Partei hieß damals Andrea Nahles. Zahlreiche Genossen liefen über zur "Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit", die 2007 dann mit der PDS zur Partei Die Linke fusionierte. Damit hatte sich erstmals auch im Westen der Republik eine linke Konkurrenz zur SPD in vielen Landtagen etabliert.

Schulz versprach im Wahlkampf Korrekturen der Agenda

Franz Müntefering, der Schröder 2004 als Parteichef ablöste, verteidigte dessen Reformpolitik noch entschieden. Fast alle seine Nachfolger an der Parteispitze seither aber haben Korrekturen daran vorgeschlagen mit dem Ziel, die Parteibasis mit der eigenen Regierungsarbeit zu versöhnen. Diese Basis beschäftigte sich ohnehin meist nur mit den Schattenseiten des Großprojekts und verlor aus dem Blick, dass dazu auch Investitionen von mehreren Milliarden Euro in Bildung, Forschung und Kinderbetreuung gehört hatten. Zumindest in dieser Hinsicht verteidigt die SPD der Gegenwart Schröders Erbe, das ihr kaum bewusst scheint: Auch im Bundestagswahlkampf 2017 forderte sie milliardenschwere Investitionen in Infrastruktur und Bildung – und setzte sie im Koalitionsvertrag auch durch.

Gegen Münteferings Rat setzte sich Parteichef Kurt Beck 2007 für eine längere Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I ein – er wollte so den Gewerkschaften entgegenkommen. Sigmar Gabriel warb später für Korrekturen bei Rente und Arbeitsmarktreformen. Auch Martin Schulz versprach im Wahlkampf Korrekturen der Agenda. Demnach sollten Arbeitslose ein Recht auf Weiterbildung erhalten und für die Dauer der Qualifizierung ein "Arbeitslosengeld Q" in Höhe des Arbeitslosengeldes I bekommen.

Neue Forderungen nach Korrekturen

Anlässlich des 15. Jahrestages von Schröders Reformrede kommen aus der SPD nun neue Forderungen nach Korrekturen. Die Sozialdemokraten müssten die "Agenda-Politik im Erneuerungsprozess der SPD aufarbeiten", forderte die Bundestagsabgeordnete Daniela Kolbe, die Mitglied des Bundesvorstands ist. "Wir brauchen Mut zur Veränderung. Dazu gehört für die SPD auch, sich kritisch mit dem auseinanderzusetzen, was wir vor 15 Jahren in die Wege geleitet haben", erklärte die Vertreterin der Parteilinken. Die Menschen würden zu Recht klagen, dass sie jahrzehntelang in die Arbeitslosenversicherung oder die Rentenversicherung eingezahlt haben, dann aber trotzdem schnell ins Arbeitslosengeld II oder die Grundsicherung rutschen.

Die designierte Parteichefin Nahles hatte vor drei Jahren in einem Grundsatzartikel erklärt, die SPD könne darauf "stolz sein", dass Schröder nicht nur auf die Finanzwirtschaft gesetzt, sondern Deutschland wieder zu einem "Wirtschaftswunderland" gemacht habe. Zwar nannte die damalige Arbeitsministerin auch Fehler der Reformpolitik wie die Ausdehnung des Niedriglohnsektors. Die Reformen hätten aber einen "Prozess der moderierten Anpassung des Sozialstaats an die Verhältnisse der digitalen Gesellschaft eingeleitet, von dem wir heute – bei aller Gestaltungsnotwendigkeit – profitieren", urteilte sie.

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