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Der Antisemitismus muslimischer Migranten kommt oft getarnt als Protest gegen Israel daher.

© p-a/Jüdisches Forum

Die Wut der muslimischen Migranten: „Das ist keine Israelkritik, sondern Antisemitismus“

Ein Teil der muslimischen Migranten in Deutschland vertritt antisemitische Haltungen, sagt Migrationsforscher Koopmans. Ein Überblick.

Brennende Israelfahnen, fliegende Steine und Pyrotechnik und eine Menschenmenge, die immer wieder den Tod aller Juden und das Ende des Staates Israels skandiert. Die Wut über die israelische Politik im Konflikt mit der Hamas hat sich bei pro-palästinensischen Demonstrationen am Wochenende oftmals auch in blankem Antisemitismus gezeigt. Politiker aller Parteien haben entsetzt auf die Bilder reagiert, auf denen auffällig viele Menschen mit Migrationshintergrund zu sehen waren.

Den Migrationsforscher Ruud Koopmans vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialwissenschaften haben die Bilder nicht überrascht. „Ich warne seit einem Jahrzehnt vor dem Problem von Antisemitismus bei muslimischen Migranten. Das Problem verschwindet nicht, wenn wir wegschauen“, sagt Koopmans. Bereits 2013 hat er antisemitische Tendenzen unter Muslimen in Deutschland und Europa untersucht.

In einer Studie stimmten damals 28 Prozent der Befragten in Deutschland der Aussage zu, man könne Juden nicht trauen und sie seien verantwortlich für die meisten Kriege in der Welt. „Das hat nichts mit Israelkritik zu tun, sondern ist Antisemitismus“, sagt Koopmans.

Im internationalen Vergleich seien die Werte sogar noch niedrig, sagt der 60-Jährige. So hätten 54 Prozent der Muslime in der Türkei, 73 Prozent der Muslime in Nord-Zypern und 63 Prozent der Muslime in Kenia antisemitische Positionen unterstützt. 2018 hat Koopmann seine Studie, für die er teils heftig kritisiert worden ist, wiederholt. Ergebnis: 29 Prozent der Befragten Muslime in Deutschland äußerten Zustimmung für die Aussagen. Dies decke sich mit vielen anderen wissenschaftlichen Untersuchungen zu dem Thema, sagt Koopmann.

Hier falle auf dass Muslime vom Balkan deutlich gemäßigter auftreten würden, als muslimische Migranten mit Wurzeln aus der Türkei, Syrien oder dem Irak, erklärt Koopmann. Erstaunlich sei für Koopmans gewesen, dass Antisemitismus auch unter Muslimen, die bereits in zweiter oder dritter Generation in Deutschland leben, besser integriert, besser gebildet und mehr Wohlstand hätten, weit verbreitet sei. „Die Integration gerät ins Stocken, wenn es aus den Heimatländern eine sehr ideologische Steuerung gibt“, sagt Koopmann.

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Es sei daher nicht verwunderlich, dass auch viele deutsch-türkische Migranten am Wochenende demonstriert hätten. Der türkische Präsident mache gezielt Stimmung gegen Israel und die Juden und sein Einfluss reiche über TV-Sender und die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion (DITIB) bis nach Deutschland. Hier müsse die Politik ansetzen, fordert Koopmans: „Die Auslandsfinanzierung von religiösen Vereinen aus diktatorialen Ländern muss unterbunden werden.“

Erkenntnisse der Sicherheitsbehörden

„Das Feindbild ,des Juden’ bildet einen wesentlichen gemeinsamen Nenner in der Ideologie aller islamistischen Gruppierungen“, schreibt das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) im „Lagebild Antisemitismus“ vom Juli 2020. Islamisten orientierten sich „an antijüdischen Traditionen des Islam, andererseits lässt sich das antisemitische Narrativ im Islamismus aber auch auf europäische Quellen und nicht zuletzt auf den Nationalsozialismus zurückführen“.

Das BfV beschreibt auch, wie populär Antisemitismus in den Heimatländern der Muslime ist. Demnach ergab eine weltweite Studie der amerikanisch-jüdischen Anti-Defamation League in den Jahren 2013 und 2014, dass in den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens sowie in Nordafrika insgesamt 74 Prozent der Befragten „mit dem Großteil der antisemitischen Vorurteile übereinstimmen“. In Westeuropa waren es 24 Prozent.

Ideologischer Meilenstein

Als wesentliche Akteure des islamistischen Antisemitismus nennt das BfV die 1928 in Ägypten gegründete Muslimbruderschaft, die aus ihr hervorgegangene palästinensische Terrororganisation Hamas, die schiitisch-libanesische Terrormiliz Hisbollah, die international agierende Hizb-ut Tahrir, die türkische Milli-Görüs-Bewegung und die salafistische Szene, deren radikalster Teil sich zur Terrormiliz „Islamischer Staat“ bekennt.

Als eine Art ewigen Chefideologen des islamistischen Antisemitismus beschreibt das BfV den ägyptischen Muslimbruder Sayyid Qutb. Er wurde 1966 wegen seiner Gegnerschaft zum ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser hingerichtet, doch seine Hetzschriften wirken bis heute und haben Islamisten wie Osama bin Laden geprägt. Das BfV sagt im Lagebild, „einen ideologischen Meilenstein des islamistischen Antisemitismus stellte das 1950 von Sayyid Qutb veröffentlichte Werk ,Unser Kampf mit den Juden’ dar“.

Qutb kombinierte traditionelle judenfeindliche Ansichten, die schon im Koran zu finden, mit europäischem Antisemitismus. Qutb behaupteteda, Juden „verübten Anschläge gegen die Gemeinschaft der Muslime vom ersten Tag an, an dem diese sich bildete“. Für Qutb war der Völkermord der Nazis an den Juden ein Geschenk des Himmels. „Allah hat Hitler gebracht, um über sie zu herrschen“, steht in dem Pamphlet. So trug Qutb dazu bei, dass Hitler bis heute von vielen muslimischen Arabern als Held verehrt wird.

Auch bei türkischen Linksextremisten Indizien für Antisemitismus

Antisemitismus gibt es allerdings auch in nicht-islamistischen Vereinigungen aus muslimischen Ländern. Das BfV nennt die linksextreme palästinensische Terrororganisation PFLP, die jetzt auch bei den Protesten in Deutschland aktiv ist und mit deutschen Maoisten kooperiert, sowie die von PFLP und Hamas geprägte, israelfeindliche Bewegung „Boykott, Desinvestitionen & Sanktionen (BDS)“. Hinzu kommt die rechtsextreme türkische Bewegung „Ülkücü“, auch bekannt als „Graue Wölfe“. Ihr Vordenker, der 1975 gestorbene Nihal Atsiz, bezeichnete Juden als „die Feinde aller Völker“.

Auch bei türkischen Linksextremisten gibt es Indizien für Antisemitismus. „Blutrünstiges zionistisches Israel, verschwinde aus dem Nahen Osten!“, propagierte schon 2014 die DHKP-C. Berlins Verfassungsschutz zitierte zudem 2020 in einem Report zu Antisemitismus den Anführer der militant kurdischen Separatistenorganisation PKK, Abdullah Öcalan, mit den Worten, der Kapitalismus regiere die Welt „mit Hilfe der Juden“. Öcalan behauptete sogar, die Juden hätten „Hitler hervorgebracht“ und die Terrormiliz IS sei ein „israelisches Projekt“.

Antisemitismus auf Tik Tok

Der Israel-Palästina-Konflikt wird auch auf sämtlichen Social-Media-Plattformen aufgegriffen. Selbst dort, wo man es nicht vermutet. Tik Tok, die Social-Media-App für kurze Videoclips, wird vor allem von Teenagern genutzt, die dort Comedy- oder Tanzvideos teilen. Politisch wurde es auf der Plattform bereits bei der Blacks-Live-Matter-Bewegung und bei Wahlkampfauftritten von Ex-US-Präsident Trump.

Seit einigen Wochen werden deutschen Tik Tok Nutzer:innen, die durch die App scrollen, immer wieder Videos mit dem Hashtag „freePalestine“ angezeigt. Ein Video zeigt eine junge Frau, die an ihren Schultern eine palästinensische Flagge befestigt hat. Sie tritt in einem Boxstudio um sich, in der Videobeschreibung steht auf Englisch: „Egal, wie oft sie dich angreifen, trete zurück bis du frei bist. #Freiheitfürpalestina #Freiheit #Menschenrechte.“

"Es wird ein Gut/Böse-Schema vermittelt"

Theresa Lehmann, die für die Amadeu Antonio Stiftung Antisemitismus auf Tik Tok beobachtet, sagt: „In diesen kurzen, emotionalen Videos wird den Nutzer:innen deutlich gemacht, auf welche Seite sie sich stellen sollen. Es wird ein Gut/Böse-Schema vermittelt. Israel oder "die Zionisten" werden als das ultimativ Böse gelabelt.“ In vermeintlich harmlosen Formaten wie diesem fänden sich oft uralte antijüdische Codes wieder.

Zum Beispiel werde von den „Kindermördern Israel“ gesprochen oder subtil behauptet, dass deutsche Medien von Israel kontrolliert werden. Unauffällige Kleinigkeiten, wie ein Stiefelemoji neben einer Israelflagge, sollen symbolisieren man trampele auf Israels Flagge herum, sagt Lehmann. Manche Nutzer:innen, die solche Videos auf der Plattform posten, würden an die Black Lives Matter Bewegung anknüpfen wollen um die antirassistische Bewegung auf Tik Tok für Palestinian Lives Matter zu mobilisieren.

Der Algorithmus passt sich daran an

Paul C. Strobel, Experte für politische Kommunikation in den sozialen Medien, der sich mit den Themen Informationskrieg, Propaganda und Desinformation befasst, sagt: „Das Video der boxenden Frau ist nicht unbedingt als Antisemitismus erkennbar. Aber die Bewegung wirkt durch solche Videos auf den ersten Blick spannend, sympathisch und anschlussfähig, damit kann sie Teenager schnell mitreißen.“ Sobald Nutzer:innen Videos länger ansehen oder liken, passt sich der Algorithmus an und es erscheinen automatisch mehr Videos zu diesem Thema und dem Hashtag auf der Startseite der App.

Dabei sind viele Videos, egal von welcher politischen Seite, aus dem Kontext gerissen und zeigen nur bestimmte Ausschnitte. Die Nutzer:innen können sich kein richtiges Bild von der Situation machen. „Sie werden dadurch in einen Strudel reingezogen, wo ihnen plötzlich Videos angezeigt werden, in denen zu Gewalt gegen Juden aufgerufen wird“, sagt Strobel. Solche Videos werden in der Regel schnell von Nutzer:innen gemeldet und von der Plattform gelöscht, aber bevor es zur Löschung kommt, können sie schon von vielen gesehen werden.

Ungleichgewicht auf Tik Tok

Auf Tik Tok gibt es im Israel-Palästina-Konflikt laut Strobel ein Ungleichgewicht. Denn während auf anderen Social-Media-Kanälen wie Facebook oder Twitter offizielle israelische Accounts eine hohe Reichweite haben, sei das auf Tik Tok nicht der Fall. Sie passen nicht zu der Plattform, auf der normalerweise Comedy- oder Tanzvideos viral gehen.

„Die palästinensische Seite ist eher eine Graswurzelbewegung“, sagt Strobel, der auch die Social-Media-Abteilung einer politischen Kampagnenorganisation leitet und Reserveoffizier-Anwärter der Bundeswehr ist. „Dort gibt es ganz viele Privatpersonen, die Videos zum Thema teilen. Sie haben eindeutig die Deutungshoheit auf Tik Tok und dominieren die Debatte durch schiere Masse.“

Das Ungleichgewicht zu dem komplexen Konflikt ist vor allem auch deshalb ein Problem, weil die Videos junge Menschen erreichen, die sich vermutlich noch keine Meinung zum Nahostkonflikt gebildet haben. Viele werden Videos dazu sehen, bevor sie das Thema in der Schule behandeln. Sie können die Informationen, die sie auf Social Media dazu sehen, kaum richtig einordnen.

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