zum Hauptinhalt
Gewalt gegen Frauen kann ein Asylgrund sein.

© picture alliance / dpa/Peter Steffen

Ehegewalt, Zwangsheirat, „Ehrenmorde“: Frauen können auf leichteres Asyl hoffen

Gefährdete sollen aufgrund ihres Geschlechts als eine verfolgte „bestimmte soziale Gruppe“ eingestuft werden, sagt der Generalanwalt des EU-Gerichtshofs.

Von häuslicher Gewalt, Zwangsverheiratungen oder sogenannten Ehrenmorden bedrohte Frauen haben in der Europäischen Union künftig womöglich bessere Chancen auf Asyl. In einem Vorabentscheidungsverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) erklärte der Generalanwalt des EuGH, Jean Richard de la Tour, dass Betroffenen wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer „bestimmten sozialen Gruppe“ im Sinne der einschlägigen EU-Richtlinie die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt werden könne. Dieses Merkmal zählt die Richtlinie neben weiteren Schutzgründen wie der Verfolgung wegen Rasse, Religion, Nationalität oder der politischen Überzeugung auf. In den meisten Fällen pflegt der Gerichtshof den Anträgen des Generalanwalts zu folgen.

Anlass für das Verfahren ist die Klage einer Frau vor dem Verwaltungsgericht der bulgarischen Hauptstadt Sofia. Das dortige Gericht zweifelt, ob es der Frau den geforderten Schutz nach EU-Recht zusprechen kann, und hat den EuGH um eine entsprechende Beurteilung ersucht (Rechtssache C-621/21).

Nach Mitteilung des Gerichtshofs vom Mittwoch handelt es sich um eine Türkin kurdischer Herkunft, die in ihrem Heimatland zwangsverheiratet wurde. Nach Fällen von häuslicher Gewalt und Drohungen sowohl durch ihren Ehemann als auch durch ihre leibliche Familie und ihre Schwiegerfamilie sei sie aus der Wohnung geflüchtet und noch vor ihrer Scheidung im Jahr 2017 eine religiöse Ehe mit einem anderen Mann eingegangen. Die Frau befinde sich jetzt in Bulgarien und mache geltend, dass sie um ihr Leben fürchte, sollte sie, wie von den Behörden verlangt, in die Türkei zurückkehren müssen.

Strittig ist, ob derart bedrohte Frauen die Gruppenkriterien nach dem EU-Flüchtlingsschutz für Verfolgte erfüllen. Demnach müssen Mitglieder der „bestimmten sozialen Gruppe“ angeborene gemeinsame Merkmale oder einen „gemeinsamen Hintergrund haben, der nicht verändert werden kann“. Zudem muss die Gruppe in ihrem Herkunftsland eine „deutlich abgegrenzte Identität haben, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird“. Ein Beispiel für geschlechtsspezifisch Verfolgte in diesem Zusammenhang sind Homosexuelle.

Geschlecht ist ein „soziologisches Konzept“, sagt der Generalanwalt

Der Generalanwalt antwortet auf die Frage auch bei betroffenen Frauen mit einem prinzipiellen Ja: Die Richtlinie selbst stelle klar, dass geschlechtsbezogene Aspekte zu berücksichtigen seien. Auch lasse sich das Geschlecht der betreffenden Frau mit einem angeborenen Merkmal – nämlich ihrem biologischen Geschlecht –, das im Sinne der Richtlinie „nicht verändert werden kann“, in Verbindung bringen.

Zur zweiten Voraussetzung erklärte der Generalanwalt, das Geschlecht sei ein „soziologisches Konzept, das so verwendet wird, dass die Werte und Vorstellungen, die ihm zugeschrieben werden, über das biologische Geschlecht hinaus Berücksichtigung finden“. Mit dem Begriff des Geschlechts müsse deutlich zu machen sein, dass Ungleichheiten aufgrund zugeschriebener Geschlechterrollen gesellschaftlich vorgegeben seien und sich somit im Laufe der Zeit gesellschafts- und gemeinschaftsabhängig unterschiedlich entwickeln könnten.

Frauen seien demnach nur deshalb, weil sie Frauen sind, ein Beispiel für ein „soziales Konstrukt“, das angeborene und unveränderliche Merkmale aufweise. Diese könnten aber je nach ihrem Herkunftsland und dessen sozialen, rechtlichen oder religiösen Normen unterschiedlich wahrgenommen werden. Die Schlussfolgerung: Frauen bilden eine „bestimmte soziale Gruppe“, wenn sie bei ihrer Rückkehr in ihre Heimatstaaten ehelichen Gewaltakten ausgesetzt wären, „die in bestimmten Gemeinschaften tradiert sind“.

Nach Ansicht des Generalanwalts kann sich aus daraus resultierenden Bedrohungen für Frauen eine „eigene Identität“ der Betroffenen ergeben, wie die Richtlinie sie als Voraussetzung für den Schutz „bestimmter sozialer Gruppen“ verlange. Es handele sich um „geschlechtsspezifische Gewaltakte“, die auch bei der Frage in den Blick genommen werden müssten, ob sogenannter subsidiärer Schutz vor Abschiebung aus menschenrechtlichen Gründen gewährt werden muss. Wer im Namen der Ehre von Familie oder einer Gemeinschaft getötet oder Opfer unmenschlicher Behandlung werden kann, dem drohe ein „ernsthafter Schaden“, wie ihn die Richtlinie als Voraussetzung für subsidiären Schutz verlange.

Eine pauschale Anerkennung von häuslicher Gewalt oder drohender Zwangsheirat als Asylgrund wird es dennoch kaum geben. Der Generalanwalt fordert, dass die zuständigen Behörden eine „gründliche individuelle Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz“ vorzunehmen hätten. Dabei spiele auch eine Rolle, welchen Schutz die Behörden des Herkunftsstaates der Geflüchteten für Betroffene bieten könnten.

Für deutsche Behörden und Gerichte würden sich aus einem entsprechenden Urteil des Gerichtshofs keine unmittelbaren Folgen ergeben. Die Gefahr von Zwangsehen oder Verfolgung durch die Familie wird hier als geschlechtsspezifische Verfolgung anerkannt. Im Einzelfall gibt es jedoch immer wieder Diskussionen um die richtige Handhabung der Kriterien.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false