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Die von Russland kontrollierte Hafenstadt Mariupol am Asowschen Meer im Südosten der Ukraine.

© Foto: AFP/stringer

Einmal Hölle und zurück: Ukrainische Kriegsgefangene erinnern sich an die Kämpfe um Mariupol

Sie sahen brutale Kämpfe und verbrachten fünf Monate in russischer Gefangenschaft. Nun haben eine Marineinfanteristin, ein Hauptmann und ein Arzt ihre Geschichte erzählt.

Im September kam es zum größten Gefangenaustausch seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine. 215 ukrainische Gefangene wurden freigelassen. Drei von ihnen – eine Marineinfanteristin, ein Hauptmann und ein Arzt – erlebten die Kämpfe in den ersten Monaten des Krieges sowie den Umgang Moskaus mit Kriegsgefangenen am eigenen Leib. Diese drei Ukrainer:innen sprachen nun mit der britischen Zeitung „Financial Times“.

Alle drei waren in Mariupol – ein strategisch wichtiger Hafen der Ukraine und das am heftigsten umkämpfte Gebiet der Ukraine in den ersten Monaten des Krieges. Im Stahlwerk Azovstal fanden monatelang Kämpfe statt, grausame Szenen sollen sich dort zugetragen haben. Ähnlich war es im Eisen- und Stahlwerk Iljitsch. Dorthin sollte es die drei nur kurz nach Beginn der Kämpfe verschlagen.

Major Oleksandr Voronenko

Voronenko war bereits vor der Invasion als Mitglied der 56. motorisierten Brigade der Ukraine in Mariupol. Er sagte, die Intensität der Kämpfe sei erschreckend und die Zerstörung immens gewesen, als die russischen Streitkräfte einmarschierten. „Es fühlte sich an wie ein langer Tag in der Hölle.“

Er erinnert sich daran, dass Strom-, Gas- und Wasserversorgung schnell unterbrochen wurden. Putin verwendet diese Taktik auch aktuell, in der Hoffnung, den ukrainischen Widerstand zu brechen.

Die Kämpfe seien so intensiv gewesen, dass der Himmel manchmal durch den dichten schwarzen Rauch der Artillerie- und Raketeneinschläge verdeckt gewesen sei. Nach Schätzungen der örtlichen Behörden und der UNO wurden bei diesen Angriffen Tausende von Zivilisten getötet. „Es waren ununterbrochene, brutale Kämpfe“, sagte Voronenko. Ihm selbst wurde während der Kämpfe ins Bein geschossen.

Hauptmann Valentina Strutynska

Valentina Strutynska ist Marineinfanteristin und sie erinnert sich an russische Panzer, die wahllos auf Wohnblocks geschossen haben sollen, was eine Evakuierung fast unmöglich gemacht habe. „Es war das erste Mal, dass ich ein solches Ausmaß an Kämpfen erlebt habe“, sagte sie. „Ich habe versucht, den Abtransport der Toten zu organisieren, aber das ist mir nicht gelungen, weil die Kämpfe so extrem waren.“

Russische Panzer fahren durch Mariupol.
Russische Panzer fahren durch Mariupol.

© Foto: Reuters/Chingis Kondarov

Kurz darauf verstärkte Moskau seine Angriffe. Die in der Stadt verbliebenen ukrainischen Streitkräfte zogen sich zusammen mit Hunderten Zivilisten, darunter auch Kinder, in zwei riesige Industrieanlagen zurück: die Eisen- und Stahlwerke Iljitsch und Azovstal.

Strutynska und Voronenko waren beide im März mit ihren Einheiten auf dem Gelände des Iljitsch-Werks, wo sie in den tiefen Betonbunkern Schutz fanden. Die Vorräte seien schnell zur Neige gegangen, Hilfe habe es jedoch aus Kiew gegeben.

Hauptmann und Arzt Oleksandr Demchenko

Demchenko hatte sich freiwillig gemeldet, Verstärkung und Vorräte nach Mariupol zu fliegen. „Mariupol war bereits umzingelt“, sagte er. „Mir war klar, dass es wahrscheinlich eine Einbahnstraße war und es kein Zurück mehr geben würde.“

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sagte später, solche Missionen seien „fast unmöglich“ und viele Menschen würden sie nicht überleben. Demtschenko überlebte. Und er sollte die nächsten sechs Wochen damit verbringen, schwer verwundete Soldaten und Zivilisten zu behandeln.

Rauch steigt während des Beschusses aus dem Stahlwerk Azovstal in Mariupol auf.
Rauch steigt während des Beschusses aus dem Stahlwerk Azovstal in Mariupol auf.

© dpa/Alexei Alexandrov

Demtschenko und ein weiterer Arzt wurden zusammen mit Spezialkräften in getrennten Militärhubschraubern abgesetzt. „Sie teilten uns auf, damit wenigstens einer von uns eine Chance hätte, es zu schaffen, falls ein Hubschrauber abgeschossen würde“, sagte er. Sie standen unter feindlichem Beschuss, landeten in der Nähe von Mariupol und stiegen auf ein Boot um, das sie an ihr Ziel brachte.

Demtschenko richtete ein provisorisches Krankenhaus mit Operationssaal ein, um die Verwundeten zu behandeln. Er habe kaum Licht gehabt, arbeitete 30 Stunden oder mehr am Stück. Er berichtet von vielen Verwundeten in entsetzlichem Zustand und Amputationen ohne oder mit nur geringfügiger Betäubung. Manche Patienten hätten „nur durch ein Wunder“ überlebt.

Die Luftangriffe gingen derweil weiter. Eine Explosion soll Demtschenko quer durch den Raum gegen einen Betonpfeiler geschleudert haben, während eine andere drei Stockwerke aus Beton auf eine der Krankenstationen einstürzen ließ und mehrere Patienten tötete.

Ein verwundeter Angehöriger der ukrainischen Streitkräfte aus dem belagerten Stahlwerk Azovstal in Mariupol wird auf einer Bahre aus einem Bus transportiert, der unter Eskorte des prorussischen Militärs eintraf.
Ein verwundeter Angehöriger der ukrainischen Streitkräfte aus dem belagerten Stahlwerk Azovstal in Mariupol wird auf einer Bahre aus einem Bus transportiert, der unter Eskorte des prorussischen Militärs eintraf.

© Foto: REUTERS/ALEXANDER ERMOCHENKO

Die Ukrainer waren schließlich gezwungen sich zu ergeben. Zuerst die Truppen in Iljitsch im April und die in Asow einen Monat später. Die ukrainischen Soldaten wurden von russischen empfangen, in Busse geführt und in verschiedene Gefängnisse gebracht.

„Konzentrationslager“ für ukrainische Kriegsgefangene

Strutynska, Demchenko und Voronenko wurden in den nächsten sechs Monaten in verschiedenen Gefängnissen festgehalten. Alle drei waren im berüchtigten Oleniwka-Gefängnis in der besetzten Region Donezk inhaftiert, das Selenskyj als „Konzentrationslager“ für ukrainische Kriegsgefangene bezeichnet hat.

Keiner der drei Befragten war zum Zeitpunkt des Anschlags im Juli in Oleniwka, als 53 Menschen ums Leben kamen. Keiner der Gefangen wollte sich zu etwaigen Misshandlungen in Gefangenschaft äußern. Andere Gefangene berichteten zuvor offen von Misshandlungen, Demütigung und Folter in Oleniwka.

Die Befragten berichten jedoch, dass sie in enge Zellen gepfercht wurden, in denen sie ohne Decken schliefen. Ihnen soll nur wenig Nahrung zur Verfügung gestellt und schlammiges Wasser zu trinken gegeben worden sein. Einige seien davon krank geworden. Demchenko verlor in Haft 45 Kilogramm Körpergewicht.

 Ein Soldat steht Wache neben der Mauer eines Gefängnisses in Oleniwka.
Ein Soldat steht Wache neben der Mauer eines Gefängnisses in Oleniwka.

© Foto: dpa/AP/Uncredited

Strutynska teilte sich eine Zelle mit 30 Soldatinnen, die eigentlich für vier gedacht war. Sie hätten übereinander geschlafen und ukrainische Volkslieder und Popsongs gesungen, um sich aufzumuntern. Sie berichtet, dass sie in Oleniwka, das von pro-russischen Ukrainern geführt worden sei, besser behandelt wurde als im russischen Gefängnis in Taganrog, in das sie später verlegt wurde.

Dort sollen sie körperlich und verbal misshandelt worden und russischer Propaganda ausgesetzt gewesen sein. Als das kalte Septemberwetter einsetzte, kauerten sie in ihren ungeheizten Zellen zusammen.

Der große Gefangenaustausch

Am 21. September wurden die Kriegsgefangenen von russischen Wachleuten geweckt, die ihnen die Augen verbanden und die Hände schmerzhaft auf den Rücken fesselten, so berichten sie. Einige dachten, sie würden in ein anderes Gefängnis verlegt oder nach Mariupol zurückgeschickt, da Gerüchte über „Scheinprozesse“ kursierten.

Tatsächlich sollten 215 ukrainische Gefangene gegen 55 russische Militärs ausgetauscht werden. Einer davon war Putins Vertrauter Viktor Medwedtschuk.

Als sie nach fünf Monaten russischer Gefangenschaft aus ihrer Zelle geholt wurde, befürchtete Strutynska das Schlimmste. Erst als sie viel später die Handschellen und die Augenbinde abgenommen bekam und die Rufe „Ruhm für die Ukraine“ hörte, wurde ihr klar: Sie ist zu Hause.

Angehörige der prorussischen Streitkräfte werden im Rahmen eines Kriegsgefangenenaustauschs zwischen der Ukraine und Russland ausgetauscht.
Angehörige der prorussischen Streitkräfte werden im Rahmen eines Kriegsgefangenenaustauschs zwischen der Ukraine und Russland ausgetauscht.

© Foto: IMAGO/SNA

Alle drei Kriegsgefangen sagten, sie würden nach ihrer Genesung und nachdem sie Zeit mit ihrer Familie verbracht hätten, in den Militärdienst zurückkehren wollen.

Demtschenko will wieder Gewicht zulegen und seine Erfahrung an andere Ärzte weitergeben.

Voronenko würde gern eine Operation durchführen, um die zwei Kugeln entfernen zu lassen, die seit Mariupol noch immer in seinem Bein stecken. „Ich habe nie wegen meiner Wunden geweint“, sagte er, aber die Heimkehr sei „emotional“ gewesen. Vor kurzem hat er seine Kinder wieder getroffen, die aus dem besetzten Cherson geflohen waren.

Strutynska ist wieder mit ihrem Mann zusammen, von dem sie sieben Monate lang nichts gehört hatte. Auch er war in russischer Gefangenschaft und ist in einem anderen Gefangenaustausch frei gekommen. Sie schreibt: "Mein Held. Mein geliebter Mann ist zu Hause".

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