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Historisch: Bruderkuss zwischen Erich Honecker und Michail Gorbatschow auf dem SED-Parteitag.

© imago/Sommer

Nachruf auf Michail Gorbatschow: Er war der bedeutendste gescheiterte Politiker des 20. Jahrhunderts

Im Westen geehrt, in seiner Heimat verachtet. Gorbatschow brachte Kräfte in Bewegung, die die herrschende Weltordnung zerstörten – und am Ende sein Lebenswerk.

Mehr als 30 Jahre sind seit jenem Tag vergangen. Es herrscht eine merkwürdige Stimmung, als Michail Gorbatschow am 6. Oktober 1989 auf dem Flughafen Berlin-Schönefeld eintrifft. Erich Honecker hat ihn zu den Feiern zum 40. Jahrestag der DDR eingeladen.

Das dürfte dem SED-Generalsekretär schwer gefallen sein, denn der führende Genosse aus Moskau folgt einem Kurs, den er ablehnt. Gorbatschow hat in der Sowjetunion eine Politik der Reformen, einen radikalen Umbau des real existierenden Sozialismus, eingeleitet.

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Gibt es überhaupt einen Grund, diesen 40. Jahrestag der DDR zu feiern? Seit dem Sommer verlassen Menschen in Scharen das Land über Ungarn und die Grenze nach Österreich oder über den Zaun der Botschaft der Bundesrepublik in Prag. Die geblieben sind, demonstrieren seit einem Monat in Leipzig. Sie rufen Honecker und seinem Politbüro zu: „Wir sind das Volk!“

Gorbatschow besucht den Checkpoint Charlie in Berlin 25 Jahre nach dem Mauerfall.

© imago/ZUMA Press

Gorbatschow hat die offiziellen Termine hinter sich, als er am 7. Oktober Unter den Linden einen öffentlichen Termin wahrnimmt. Die Menschen bedrängen ihn, jubeln ihm zu. Er ist ihr Hoffnungsträger. Gorbatschow spricht ein paar Sätze, ruhig, freundlich, sogar ein wenig lächelnd.

Aber der Inhalt dieser Sätze verrät, wie frustriert er nach den Gesprächen mit der DDR-Führung sein muss. „Gefahren warten nicht auf jene, die auf das Leben reagieren“, sagt Gorbatschow. „Wer die vom Leben und von der Gesellschaft ausgehenden Impulse aufgreift und dementsprechend seine Politik gestaltet, der dürfte keine Schwierigkeiten haben, das ist eine normale Erscheinung.“

Acht berühmte Worte, die Gorbatschow nie gesagt hat

Keine 30 Sekunden dauert diese Passage. In die Geschichte eingegangen ist sie mit nur acht Worten. Acht Worte, die Gorbatschow nie gesagt hat, einen Aphorismus, den der Übersetzer prägt: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“ Damit hat Gorbatschow der Führung um Honecker endgültig den Boden unter den Füßen weggezogen, das wird sich bald zeigen. Einen Monat später fällt die Mauer, ein Jahr später ist die DDR Geschichte.

Nicht nur an Jahrestagen der Einheit müssen die Deutschen Gorbatschow dankbar sein. Die Wiedervereinigung hätte es ohne ihn nicht geben. Irgendwann wäre die Teilung Europas wohl auch ohne ihn überwunden worden, aber sie wäre sicher anders verlaufen.

Michail Gorbatschow im Mai 1992, einem Jahr nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion.

© imago images/Rainer Unkel

Für seinen Beitrag zur Überwindung des Kalten Krieges wurde er im Westen geehrt, in seiner Heimat bis zuletzt verachtet. Denn was im Westen als Sieg erscheint und gefeiert wird, hält die große Mehrheit der Russen heute, drei Jahrzehnte später, für eine Niederlage. Gorbatschow hat - ohne es zu beabsichtigen - das russische Imperium verspielt.

Im Theater wäre Michail Gorbatschow eine große tragische Figur. Was er gewollt hat, ist ihm nicht gelungen. Was ihm gelungen ist, hat er nicht gewollt. Je mehr er das erstarrte sowjetische System reformiert, desto schlimmer wird es. Das erkennt natürlich auch Gorbatschow.

Das erklärt sein unschlüssiges Schwanken, seine Widersprüchlichkeit, die zunehmend zu seiner Natur werden. Er hat Kräfte in Bewegung gebracht, die nicht nur die herrschende Weltordnung zum Einsturz bringen, sondern die auch am Ende ihn selbst beiseite schieben.

So kommt es wohl auch, dass die größte politische Leistung dieses Mannes nicht mit seinem Namen in den Geschichtsbüchern steht. So wie etwa die unsägliche Breshnew-Doktrin zur Knebelung Mittel- und Osteuropas mit dem Namen eines seiner Vorgänger verbunden ist.

Treffen von Michail Gorbatschow (li.) und Erich Honecker (re.) in Moskau aus Anlass der DDR-Exportmuster-Ausstellung.

© imago/Ulli Winkler

Vielmehr hat Gorbatschows Sprecher Gennadi Iwanowitsch Gerassimow 1989 für die Befreiung dieser Region vom Diktat Moskaus den Begriff „Sinatra“-Doktrin erfunden: Jedes Land hat das Recht, es auf seine Weise zu versuchen. Wahrscheinlich ist es sogar richtig, dass es keine „Gorbatschow-Doktrin“ gibt.

Er hatte nie das Ziel, als Befreier Osteuropas in die Geschichte einzugehen. Gorbatschows Absicht war es, die Sowjetunion zu verbessern und damit zu retten, nicht sie zu begraben.

Gorbatschow – von frühester Jugend an geradlinig und unauffällig

Gorbatschow ist den Weg aller kommunistischen Funktionäre gegangen: von frühester Jugend über die Stufen des Apparates nach oben, geradlinig und unauffällig durch die Nomenklatura. Als er, 54-jährig, im März 1985 zum Generalsekretär des ZK der KPdSU gewählt wird, ist das noch kein Zeichen für einen sich anbahnenden Kurswechsel.

Nach einem halben Jahrzehnt unter der Führung von senilen und todkranken Männern ¬ Breshnew, Andropow, Tschernenko – vollzieht die kommunistische Partei aber endlich den überfälligen Generationswechsel.

Dass es rasch zu Veränderungen kommen muss, war aber selbst den dogmatischsten Funktionären klar. Die Sowjetunion hatte die wichtigsten Entwicklungen der wissenschaftlich-technischen Revolution verpasst. Der Rückstand zum Westen wurde nicht ¬ wie es die kommunistische Fortschrittstheorie, der dialektische Materialismus, vorherbestimmte – immer kleiner.

Der russische Präsident Wladimir Putin und der frühere sowjetische Staatspräsident Michail Gorbatschow (l).

© dpa/Carsten Rehder

Er wurde stetig größer. Der Afghanistan-Krieg zehrte an den inneren Ressourcen und beschädigte das äußere Ansehen des Landes. Zudem hatte US-Präsident Ronald Reagan mit seinem Sternenkriegsprogramm SDI gerade eine neue Runde des Wettrüstens eingeleitet, das die Kapazitäten der maroden Sowjetunion mit Sicherheit überfordern würde.

Eine sympathische, dunkle Stimme mit südrussischer Färbung

Es war nicht der Glaube an die Sieghaftigkeit des Sozialismus, sondern der nackte Selbsterhaltungstrieb, der die KPdSU in der Mitte der 80er Jahre an Reformen denken ließ. Gorbatschow, der allein schon mit seinem frischen, scheinbar unverstellten Auftreten einen unübersehbaren Unterschied zu seinen Vorgängern macht, wird zum wichtigsten Protagonisten des unausweichlichen Wandels.

Schon bald nach der Machtübernahme präsentiert der neue Mann Eigenschaften, die die sowjetischen Menschen bei ihren Führern schon lange nicht mehr gesehen hatten: Gorbatschow geht auf sie zu. Nicht im übertragenen Sinne, sondern ganz direkt auf den Straßen. Leibhaftig. Mit ausgestreckter Hand.

„Perestroika“ nennt Gorbatschow seinen Kurs

Er kann frei sprechen, mit sympathischer, dunkler Stimme und einer weichen südrussischen Färbung, in der der gesprochene Buchstabe G zu einem gehauchten H wird. Chorbatschow. Er hat ungewöhnliche, unerhörte Ideen. „Perestroika“ nennt dieser KP-Generalsekretär seinen Kurs: Umbau. Und „Glasnost“, Offenheit, das ist Gorbatschows Versprechen.

Es geschieht etwas Unvorstellbares. Die Sowjetbürger hören einem Generalsekretär wieder zu, sie lesen freiwillig seine Reden nach. Sie geben Gorbatschow, was sie schon lange keinem Parteifunktionär mehr gegeben hatten: einen Vertrauensvorschuss.

Auseinandersetzung mit Verbrechen des Stalinismus beginnt

Glasnost, die Politik der Öffnung und Offenheit, ist mehr als nur eine hohle Phrase. Plötzlich wird die fatale Stagnation, in die sich die Sowjetunion unter ihrer gerontokratischen Führung manövriert hatte, sachkundig analysiert. Sicherlich, auch weiter wird vieles verschwiegen, wie Anfangs die verheerende Katastrophe von Tschernobyl.

Aber ein Start ist gemacht. Zudem öffnen sich die Archive. Die unter Chruschtschow gestartete, dann jedoch abrupt abgebrochene Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Stalinismus beginnt von neuem. Nicht jeder aber ist bereit, die Schmerzen zu ertragen, die die Enthüllung der Wahrheit verursacht.

Erich Honecker (vorn 2.v.re., GDR/Staats- und Parteichef), Michail Gorbatschow (vorn 2.v.li., URS/Präsident der Sowjetunion),und andere während der 40-Jahr-Feier in Berlin

© imago/Sven Simon

Gleichzeitig mit dem gesellschaftlichen Aufbruch formiert sich der Widerstand dagegen. Georgi Arbatow, einer der Vertrauten Gorbatschows, wird später schreiben: Die Perestroika „begann mit einer romantischen Phase. Dieser Phase folgte nach dem üblichen Muster die politische Polarisierung. Im Jahre 1990 entwickelte sich die Schlacht zwischen den Konservativen und den Reformern zu einer Krise.“

Im Westen gibt es Begeisterung für Gorbatschow. Es ist kaum verwunderlich, wenn man seine ersten außenpolitischen Schritte betrachtet. Kaum vier Wochen im Amt, verkündet der Generalsekretär ein Moratorium für die Aufstellung von SS-20-Mittelstreckenraketen.

Dramatisches Treffen von Gorbatschow und Reagan auf Island

Nicht irgendwo, sondern im Herzen Europas hatte Stationierung von Atomraketen zur gefährlichsten Konfrontation zwischen Ost und West seit Mauerbau und Kubakrise geführt. Gorbatschow nimmt ihr scheinbar mit einer einfachen Erklärung die Spitze.

Doch dahinter stehen harte Verhandlungen, die in den Treffen Gorbatschows mit dem Reagan ihre Höhepunkte finden: Genf 1985, Reykjavik 1986 und Malta im Dezember 1989, als der Eiserne Vorhang gerade gefallen war, sind besonders wichtig.

Das dramatischste Treffen von allen ist aber das in Island. Nie schien eine Einigung zwischen der Sowjetunion und den USA über eine tatsächliche nukleare Abrüstung näher als in diesem historischen Moment.

Im Westen ist „Gorbi“ mehr Pop-Star als Politiker

Sie scheitert, weil Reagan von einer zu diesem Zeitpunkt illusionären Idee nicht lassen mag: seinem Programm zum Sternenkrieg. Es sind vor allem die Abrüstungsinitiativen, die Gorbatschow mit Recht zu hohem Ansehen und zum Friedensnobelpreis verhelfen.

Im Westen ist Gorbatschow mehr Pop-Star als Politiker. Er ist „Gorbi“. Aus seinen Aussprüchen werden viel zitierte Aphorismen. Nicht nur der Satz, den er gar nicht gesagt hat ¬ wenigstens nicht so. Konservative wie Helmut Kohl entdecken ihre Sympathien für den sowjetischen Generalsekretär erst spät und zweckgebunden.

Der Bundeskanzler braucht im Herbst 1989 die Zustimmung Gorbatschows zur deutschen Einheit. Noch drei Jahre vorher hatte der Kanzler den sowjetischen Parteichef als kommunistischen Führer abzutun versucht, der sich mit Public Relations auskenne. „Goebbels, einer von denen, die verantwortlich waren für die Verbrechen der Hitlerzeit, war auch ein Public-Relations-Experte“, hatte Kohl verächtlich hinzugefügt.

Es entsteht der Eindruck, Gorbatschow wolle seine Reformen nicht mehr

Je länger Gorbatschow an der Macht ist, desto mehr scheint er vor den tatsächlichen Folgen seiner Ideen und Reformen zu erschrecken. Dann macht er abrupt kehrt, stößt diejenigen vor den Kopf, die ihm gerade noch geholfen haben, und holt Gegner in seine Nähe, die ihn lieber heute als morgen loswerden wollen.

Immer häufiger entsteht der Eindruck, seine eigenen Reformen müssten gegen seinen Willen durchgesetzt werden. Manchmal muss sich Gorbatschow vorgekommen sein wie einer, der Bretter an ein sinkendes Schiff zu nageln versucht und dabei von den Schiffsoffizieren auf der Brücke ständig kritisiert wird.

Offen treten die inneren Widersprüche des Menschen Gorbatschow gegen Ende seiner Amtszeit zu Tage: Er redet von Demokratisierung und lässt gleichzeitig zu, dass die Sicherheitskräfte demokratische Willensäußerungen in der georgischen Hauptstadt Tiflis, im aserbaidschanischen Baku und dann auch im litauischen Vilnius blutig niederschlagen. In Baku gibt es mehr als 80 Tote, erschlagen mit den Klappspaten der Spezialkräfte, die die Menge auseinander treibt.

Anfang der 1990-er Jahre herrschen in Russland Frustration und Mangel

Der Punkt der höchsten Spannung in einem Theaterstück mit Michail Gorbatschow in der Hauptrolle ist aber nicht der Herbst 1989. Es ist der Nachmittag des 18. August 1991. In seinem Urlaubsdomizil in Foros auf der Krim sieht Gorbatschow eine Rede durch, die ihm seine Mitarbeiter geschrieben haben und die er zwei Tage später in Moskau bei der Unterzeichnung des Unionsvertrages halten will.

Einen Neuanfang für die Sowjetunion würde er in der Hauptstadt verkünden, auf der Basis von tatsächlicher Gleichberechtigung der Republiken, von Offenheit und Demokratisierung. Gorbatschow ist jetzt 60 Jahre alt und fest entschlossen, den Umbau des größten Landes der Erde fortzusetzen.

Die fünf Jahre vorher gegebenen Versprechen von Erneuerung und Beschleunigung sind bis dahin uneingelöst geblieben. Stattdessen herrscht Frustration und Mangel. Die anfängliche Intellektuelleneuphorie traf mit den Jahren auf ein immer kärglicher werdendes Warenangebot in den Geschäften. In jenem August 1991 sind selbst in der Hauptstadt Moskau, die immer sehr viel besser beliefert wird als die Provinz, die Streichhölzer und das Toilettenpapier ausgegangen.

Gorbatschows Reformen hatten die lange schlafende Nomenklatura geweckt, die sich in den von seinen Vorgängern geschaffenen Verhältnissen bequem eingerichtet hatte. Im Juli 1991 hatten die Gegner der Perestroika in ihrem Zentralorgan Sowjetskaja Rossija ein Pamphlet mit dem Titel „Wort an das Volk“ veröffentlicht.

Kanzlerin Merkel mit Gorbatschow (l.) und dem früheren polnischen Staatspräsidenten Walesa am 09. November 2009 in Berlin.

© dpa

Es war ein unverhohlener Aufruf zur Rebellion, und er kam nicht von irgendwelchen Außenseitern. Auch wenn sie sich nicht offen zu erkennen gaben, die Autoren stammten aus der engsten Umgebung des Parteichefs und Staatspräsidenten. Gorbatschow ist dennoch ans Schwarze Meer in den Urlaub gefahren.

Er will, wie er später rechtfertigend schreibt, weiter an seinem Plan arbeiten, eine „explosive Lösung der angesammelten Widersprüche zu verhindern: Durch taktische Schritte wollte ich Zeit gewinnen, damit der demokratische Prozess genügend Stabilität erlangt, um das Alte zurückzudrängen“.

Zum nächsten dieser Schritte soll der neue Unionsvertrag werden. Er soll seinen Gegnern das Argument entwinden, Gorbatschows Politik führe zum Untergang der Sowjetunion.

Um 16.50 Uhr meldet der Chef der Leibwache Gorbatschow, es seien Gäste eingetroffen. Er hatte niemanden eingeladen, niemand hatte sich angekündigt. Gorbatschow versucht zu telefonieren, alle Leitungen sind tot. Im Empfangsaal erwartet den Präsidenten eine Abordnung aus Moskau.

Gorbatschow hat immer lieber geredet

Vier Männer stehen da, allesamt aus dem engsten Führungskreis, aus Politbüro und nationalem Sicherheitsrat. Sie eröffnen ihrem Chef, er habe von seinen Ämtern zurückzutreten, „aus gesundheitlichen Gründen“. In Moskau habe bereits ein Komitee für den Notstand die Geschäfte übernommen.

Am nächsten Morgen, dem 19. August, werde es sich im Fernsehen präsentieren. „Gesundheitliche Gründe“, so hatte die Formulierung immer gelautet, wenn ein sowjetischer Spitzenfunktionär vor seinem Tod aus dem Amt gedrängt oder gar liquidiert worden war. Eine tödliche Gefahr schwebt in dem Augenblick auch über Gorbatschow.

Nach sechs Jahren ist Gorbatschow auf ganzer Linie gescheitert.

Er versucht, mit Reden die Situation zu retten. Gorbatschow hat immer lieber geredet, als die Dinge entschlossen in die Hand zu nehmen. Nun beschimpft er die Delegation als Verräter. General Valentin Warennikow, einer der Planer und Kommandeure des verlorenen Afghanistan-Krieges, schneidet dem Präsidenten brüsk das Wort ab: „Treten Sie zurück!“ Mit diesen drei Worten ist Gorbatschows Zeit an der Spitze von Partei und Staat zu Ende. Nach sechs Jahren ist er auf ganzer Linie gescheitert.

72 Stunden halten die Putschisten Gorbatschow in Foros fest. Der Präsident der Sowjetunion, noch ist er es wenigstens dem Titel nach, kehrt nach Moskau und in ein anderes Land zurück. Dort hat das Volk die Putschisten inzwischen zurückgeschlagen. Doch nicht nur sie haben verloren, auch Gorbatschow.

Präsident Jelzin demütigt Gorbatschow vor laufenden Kameras

Er versucht, seine Entmachtung zu ignorieren. Der russische Präsident Boris Jelzin demütigt ihn vor laufenden Kameras während einer Pressekonferenz. Er zwingt Gorbatschow zu einem radikalen Personalwechsel an der sowjetischen Spitze, sonst hätte er wohl mit den Stellvertretern der Putschisten, der zweiten Reihe der Verräter, weiterregiert.

Eduard Schewardnadse analysiert die Situation schon unmittelbar nach dem Augustputsch klarsichtig. Als Freund und Außenminister war der Georgier einen langen Weg mit Gorbatschow gemeinsam gegangen. Im Dezember 1990 jedoch trat er von seinen Ämtern enttäuscht und tief verletzt zurück.

Bereits unmittelbar nach dem Putsch 1991 schreibt Schewardnadse nun über Gorbatschow: „Er war Häftling der Junta. Als er aber zurückgekehrt war und auf der Pressekonferenz auftrat, sah ich, dass er nach wie vor ein Gefangener ist ¬ ein Gefangener seines Charakters, seiner Vorstellungen, seiner Denk- und Handlungsweise.“

Gorbatschow selbst habe „die Junta hochgepäppelt durch seine Fahrlässigkeit, seine Unentschlossenheit und seine Neigung zum Lavieren, durch seinen Mangel an Menschenkenntnis, durch seine Gleichgültigkeit gegenüber seinen wahren Kampfgefährten, durch sein Misstrauen gegenüber den demokratischen Kräften“.

Eine Krise ließ Gorbatschow groß werden

Doch liegt Gorbatschows Scheitern wirklich in seiner Person begründet, hatte er tatsächlich eine Chance auf Erfolg? Auf Gorbatschow trifft ein Gedanke zu, den der Althistoriker Christian Meier mit Bezug auf eine andere geschichtliche Größe prägte: Macht und Ohnmacht können sich in einer Person vereinigen.

Gorbatschow hatte als Generalsekretär formale Macht wie Stalin oder Breshnew. Eine Krise ließ ihn groß werden. Doch sie nahm ihm gleichzeitig die Möglichkeit, sie zu lösen, weil es um ihn herum zu wenige Kräfte gab, die in die gleiche Richtung strebten.

Diese Wenigen standen gegen ein etabliertes System der Machtausübung. Vor allem aber wussten die Menschen nicht mehr, woran sie waren. Mag das sowjetische Haus auch ärmlich gewesen sein, es stand fest. Jetzt, unter Gorbatschow, schwankte es bedrohlich, bevor es schließlich zwangsläufig zusammenbrach.

Bis zuletzt bleibt Gorbatschow der Überzeugung, dass die Welt ein besserer Ort wäre, wenn es die Sowjetunion noch gäbe. Am Dienstagabend, am 30. August 2022, ist er im Alter von 91 Jahren gestorben. Michail Gorbatschow war der bedeutendste gescheiterte Politiker des 20. Jahrhunderts.

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