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Blick in das leere Berliner Olympiastadion

© Kathrin Brunnhofer / dpa

Kampf gegen das Coronavirus: Hilft nur noch der Shutdown?

Die Berliner Amtsärzte verlangen vom Senat, das öffentliche Leben einzuschränken. Doch der agiert zögerlich.

Clubs und Bars schließen, das Vereinsleben vorübergehend einstellen: Die zwölf Berliner Amtsärzte haben sich dafür ausgesprochen, das öffentliche Leben massiv einzuschränken. Dies sei zum Schutz der Bevölkerung notwendig. Es reiche nicht aus, Großveranstaltungen mit mehr als 1000 Teilnehmern abzusagen.

Was wollen die Amtsärzte konkret?

Der Reinickendorfer Amtsarzt Patrick Larscheid sagte dem Sender RBB, der Senat möge das öffentliche Leben angesichts der Corona-Krise „weitgehend“ einstellen. Dies sei zum Schutz der Bevölkerung notwendig. „Wir wissen mittlerweile sehr genau, dass wir in der jetzigen Phase der Pandemie praktisch alle sozialen Kontakte unterbinden müssen, wenn wir noch eine Chance haben wollen, die Zahl der Infizierten möglichst niedrig zu halten“, erläuterte Larscheid und fügte hinzu: „Wir müssen jetzt auch auf der ganz kleinen Ebene radikal handeln, sonst überrollt uns das ganze Geschehen, ähnlich wie wir es in Italien vielleicht erleben.“

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Bislang untersagte der Senat alle Veranstaltungen mit mehr als 1000 Teilnehmern, ein Vorschlag von Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU), dem sich der Krisenstab der Bundesregierung anschloss.

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Grundlage für solche Eingriffe in das öffentliche Leben ist das Infektionsschutzgesetz, das unter Juristen als „flexibel“ anwendbar gilt. Die zwölf Amtsärzte der Bezirke wollen nun, dass der Senat weitere, härtere Vorgaben macht. Das forderte am Donnerstag auch Claudia Kaufhold vom Bundesverband der Ärztinnen und Ärzte des öffentlichen Gesundheitsdienstes. Sie war bis 2015 Amtsärztin in Berlin- Charlottenburg.

Wie lange härtere Maßnahmen nötig seien, müsse sich zeigen: Vorrang habe, Risikopatienten, also Ältere und Vorerkrankte, zu schützen. So könnten Kliniken, Gesundheitsämter und Praxen entlastet werden, damit sie sich auf den nächsten Infektionsschub einstellen können.

Inwieweit sind solche harten Maßnahmen geboten?

Das Gesundheitswesen scheint punktuell schon überlastet. Diverse Mediziner – forschende Epidemiologen, Amtsärzte, Rettungsstellenleiter – sprechen sich zunehmend für härtere Maßnahmen aus. Epidemiologen wollen so die Reproduktionsrate des Coronavirus verlangsamen, damit Krisenpläne angepasst, Kliniken aufgerüstet, neue Arzneien erforscht werden können.

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Potenziell Infizierte (die meist nicht schwerkrank sind) sollen möglichst wenig anderen Menschen begegnen und zu Hause bleiben, damit sich die Klinikärzte um komplizierte Fälle kümmern können.

Spezielle Ressourcen könnten knapp werden. Am Donnerstag kündigte Charité-Chefvirologe Christian Drosten an, man werde sich bei den massenhaft nachgefragten Corona-Tests bald auf besonders gefährdete Gruppen – also Ältere und Vorerkrankte – „fokussieren“ müssen. Maßnahmen, die dem „Lockdown“ in Nord-Italien und Zentral-China ähnlich kämen, könnten also auch deutschen Kliniken helfen, bevor im Herbst noch mehr Infizierte erwartet werden.

Unklar ist, wie kleinteilig, wie invasiv die Maßnahmen ausfallen könnten: Was ist mit Geburtstagsfeiern in Privatwohnungen, mit Kochabenden in WG-Küchen, mit Vereinsabenden unter Anglern? Dazu gibt es in der Bundesrepublik keine Erfahrungen.

Warum agiert der Senat so zögerlich?

Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD) verhandelt mit den Ärzten, die drängen, und mit Senatschef Michael Müller (ebenfalls SPD). Bis zuletzt hat Kalayci darauf hingewiesen, dass Deutschlands föderale Struktur dafür sorgt, dass Amtsärzte in ihrem Bezirk autonom entscheiden, welche Veranstaltung, welche Firma, welche Schule aus gesundheitlichen Gründen zu schließen sei. Formal hat sie Recht: Was der Amtsarzt für geboten hält, kann er anordnen – ganz ohne den Senat.

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Auch Reinickendorfs Gesundheitsamtsleiter Larscheid weiß, dass er und seine elf Kollegen selbst Bars und Spielotheken schließen könnten, doch sie wollen nicht mehr nur mit Einzelmaßnahmen vorgehen. Bislang ist kaum aufgefallen, wenn der eine Amtsarzt für einen Verdachtsfall keine Quarantäne anordnete, das nächste Gesundheitsamt den selben Patienten aber isolieren ließ. Deshalb fordern die Amtsärzte klare Vorgaben.

Der Berliner Medizinrechtler Jörg Heynemann sagte auf Anfrage, die Amtsärzte seien befugt, auch in privaten Wohnräumen tätig zu werden. Die frühere Amtsärztin Kaufhold ergänzt: Paragraf 16 des Infektionsschutzgesetzes enthalte eine Generalklausel für behördliche Einzelfallentscheidungen, um übertragbare Krankheiten einzudämmen, Paragraf 17 ermächtigt gar zur Vernichtung von Gegenständen, die mit meldepflichtigen Erregern behaftet sind.

An diesem Freitag wird mit neuen Empfehlungen gerechnet, denn am Donnerstagabend hatten sich Senatschef Müller, die Ministerpräsidenten der Länder, Vertreter der Bundesregierung und die Charité-Experten getroffen.

Halle an der Saale schließt die Schulen. Wird Berlin folgen?

Soweit ist Berlin noch nicht – und auch nicht der Bund. Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) hat sich noch am Donnerstagmittag gegen eine flächendeckende Schließung der Schulen ausgesprochen. „Wir machen alles dicht, dann ist das Problem gelöst: So einfach ist das nicht“, sagte Karliczek nach einer Videokonferenz mit ihren EU-Kollegen und -kolleginnen.

Während zahlreiche Länder ihre Schulen geschlossen haben, sei Deutschland der Meinung, „je mehr Normalität wir auf der staatlichen Ebene aufrecht erhalten können, desto besser“. Schließe eine Schule, stelle sich sofort das Problem, wie Kinder, die nicht alleine zu Hause bleiben können, betreut werden.

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„Die Eltern werden an ihren Arbeitsplätzen gebraucht, etwa in Krankenhäusern und in der Altenpflege“, sagte Karliczek. Großeltern sollten nicht einspringen, weil sie besonders gefährdet sind. Deshalb seien Bund und Länder derzeit bestrebt, den Unterricht an den Schulen aufrecht zu erhalten – und jeden Tag in Absprache mit den Gesundheitsbehörden die Lage neu zu bewerten.

Karliczek sprach von einer gemeinsamen Taskforce für die Schulpolitik, bei der es auch darum gehe, mögliche digitale Lernangebote zu koordinieren, falls es zu weiträumigen Schulschließungen kommt. Nach Redaktionschluss dieser Ausgabe wollten sich auch die Kultusminister zu den Konsequenzen der Coronakrise äußern.

Auch Berlins Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) hat sich bisher immer nur für punktuelle Schließungen von Schulen ausgesprochen, die es aktuell in sieben Fällen in Berlin gibt. Allerdings wird von Betroffenen kritisiert, dass auch diese wenigen Schließungen nicht konsequent durchgezogen würden. So seien Schulkinder in häuslicher Isolation, nicht aber deren Geschwister oder Eltern.

Liegt bald das öffentliche Leben in Berlin lahm.
Liegt bald das öffentliche Leben in Berlin lahm.

© Christoph Soeder,dpa

Für weitere Verunsicherung sorgt, dass mitunter nur einzelne Schulklassen zu Hause bleiben sollen, nicht aber die gesamte Schule. Der Landesschülerausschuss hatte nach einer Umfrage bekannt gegeben, dass viele Schulen noch immer nicht über gefüllte Seifenspender verfügten. Das aber sei das Minimum, wenn man die Schulen offen lasse.

Was bedeuten Einschränkungen des öffentlichen Lebens für die Berliner Wirtschaft?

Spätestens nach der Entscheidung vor zwei Wochen, die weltgrößten Tourismusmesse ITB unterm Funkturm abzusagen, wurde einer größeren Zahl an Unternehmen in Berlin der Ernst der Lage bewusst. Hoteliers, Restaurantbesitzer und Taxifahrer hatten fest mit den Euros von mehr als 100000 Besuchern gerechnet – wie jedes Jahr.

Auch Catering- und Reinigungsunternehmen sowie andere Firmen, die Dienstleistungen rund um den Messebetrieb anbieten, haben bereits massive Ausfälle zu verkraften. Einige sehen ihre wirtschaftliche Existenz bedroht.

Die Umsatzausfälle allein durch die ITB-Absage dürften 50 bis 60 Millionen Euro betragen, hieß es in ersten Schätzungen der Behörden. Doch längst sind auch Firmen und Branchen betroffen, die nicht direkt mit den Messekunden zu tun haben, denn Experten haben die Bevölkerung ja aufgefordert, auf den Besuch von Theatern, Clubs oder Sportveranstaltungen zu verzichten.

Der Senat prüfe mögliche Hilfen für Betroffene, hatte der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) am Mittwoch erklärt. Es müsse dabei aber nicht nur um die Kultur-, Kreativ- oder Clubszene, sondern um die gesamte Wirtschaft in der Stadt gehen. Wirtschaftssenatorin Ramona Pop (Grüne) veranstaltet mittlerweile einmal in der Woche einen „runden Tisch“ mit Spitzenvertretern aller relevanten Branchen. Diese Woche waren auch Geschäftsbanken geladen. Es geht darum, den Zugang zu Überbrückungskrediten zu organisieren.

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