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Hat Angela Merkel den Aggressionswillen Wladimir Putin unterschätzt? Zu diesem Urteil kommt zumindest der Historiker Andreas Rödder.

© dpa/Wolfgang Kumm

Das Verhältnis der Altkanzlerin zu Russland: Historiker Rödder wirft Merkel Appeasement-Politik vor

Verfällt das Erbe der Altkanzlerin „im Zeitraffer“? Beim liberal-konservativen Thinktank „Republik 21“ gehen Redner mit der Politikerin hart ins Gericht.

Von Hans Monath

| Update:

Der Historiker Andreas Rödder hat der langjährigen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) „Appeasement-Politik“ gegenüber Russland vorgeworfen. „Angela Merkel hätte im Juli 1914 womöglich den Ausbruch des Ersten Weltkriegs verhindert, aber 1939 nicht den Ausbruch des Zweiten“, sagte der Vorsitzende des Thinktanks „Republik 21“ (R21) am Dienstag in Berlin auf einer Tagung seiner Organisation mit dem Titel „Deutschland nach der Ära Merkel“.

Die deutschen Bemühungen in Merkels Regierungszeit um das Minsk-II-Abkommen zwischen der Ukraine und Russland vom Februar 2015 und die gesamte deutsche Ost-West-Politik ließen sich „in die Tradition der historisch gescheiterten Appeasement-Politik“ einordnen.

Im Hinblick auf den russischen Präsidenten Wladimir Putin meinte Rödder weiter: „Gegenüber dem expansionswilligen Kriegsherren war kein fauler ,Frieden für unsere Zeit‘ angesagt, wie ihn Chamberlain nach der Münchner Konferenz 1938 ausrief, sondern konsequente Abschreckung. Machen wir uns nichts vor, das ist die historische Liga, in der unsere Gegenwart spielt.“

Der britische Premierminister Neville Chamberlain hatte in der Hoffnung, Adolf Hitler zu besänftigen, im Münchner Abkommen der Abtretung des Sudentenlandes durch die Tschechoslowakei an Deutschland zugestimmt und dieses Ergebnis als „Peace for our time“ (Frieden für unsere Zeit) gefeiert. Die Tschechoslowakei war nicht zu der Konferenz geladen gewesen.

Professor für Geschichte in Mainz, Streiter für einen modernen Konservativismus und Tagesspiegel-Kolumnist: Andreas Rödder.

© Foto: dpa/Britta Pedersen

Der Thinktank R21 ist nach den Worten von Rödder nicht an eine bestimmte Partei gebunden und steht für eine „liberalkonservative bürgerliche Politik“. Der Historiker ist CDU-Mitglied und hatte Merkel schon während ihrer Regierungszeit vorgeworfen, sie habe die Partei inhaltlich entleert. Im Kampf um die Merkel-Nachfolge unterstützte er Friedrich Merz und wurde nach dessen Wahl zum Leiter der Grundwertekommission berufen. Rödder ist auch Kolumnist des Tagesspiegels.

Auf der ganztätigen Tagung „Deutschland nach der Ära Merkel. Lehren für die Gegenwart, Perspektiven für die Zukunft“ forderte der Thinktank-Chef nun „erstens mehr Realismus und weniger Denkblockaden, zweitens mehr Strategie und ,think big‘ und drittens mehr Führung“ in und durch Deutschland.

In der Außen- und Sicherheitspolitik habe sich Deutschland „durch ein zur Ideologie geronnenes Selbstverständnis als Zivilmacht selbst blockiert“, konstatierte Rödder. Selbst „die so nüchterne“ Angela Merkel habe „Putin unterschätzt und den Russen irgendwie vertraut“, wie ihr früherer außenpolitischer Berater Christoph Heusgen kürzlich festgestellt habe.

Die Welt will und wird nicht am deutschen Wesen genesen.

Andreas Rödder, Historiker und Thinktank-Chef

Mit Blick auf Merkels Politik während der Flüchtlingskrise meinte der Historiker: „Auch ihre so vermeintlich nüchterne Politik war ja nicht frei von deutschem Moralismus, wenn sie 2015 von einem moralischen Imperativ sprach, den viele Partner Deutschlands als moralisierende Übergriffigkeit empfunden haben.“ Er fügte hinzu: „Die Welt will und wird nicht am deutschen Wesen genesen.“

Als Stärken der deutschen Außenpolitik nannte der Redner „Besonnenheit, Suche nach Ausgleich und die Vermeidung von Abenteuern“. Zu Merkels Europapolitik meinte er, es sei „nicht gering zu veranschlagen“, dass die Kanzlerin in schweren Krisen die EU zusammengehalten habe. Dafür habe sie aber grundlegende Probleme nicht gelöst, sondern aufgeschoben.

Zu einer ähnlichen Einschätzung war zuvor auch der Potsdamer Historiker Dominik Geppert gekommen. Die These vom Aufschieben der Probleme könne erklären helfen, warum das Erbe Merkels „geradezu im Zeitraffer schrumpft, implodiert und in sich zusammenfällt“, meinte er.

Bei seinem ersten Kongress hatte R21 im November das Thema „Wokeness“ als Gefahr für die Demokratie behandelt. CDU-Parteichef Merz allerdings ist offenbar nicht willens, den Kampf gegen Identitäts- und Genderpolitik zu einem Schwerpunkt seiner Arbeit zu machen. Der Hamburger Landeschef der CDU, Christoph Ploß, der sich immer wieder durch harte Attacken auf die Identitäts- und Genderpolitik profiliert hatte, kündigte kürzlich seinen Verzicht auf sein Amt an.

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