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"Warum zeigt man nicht einfach ein Bild von George Floyd?", fragt Melanye Price, Politikwissenschaftlerin in Texas. 

© Francois Guillot/AFP

Interview mit afroamerikansicher Politikwissenschaftlerin: „Warum können wir die Macht nicht teilen?“

Melanye Price spricht im Interview über die Auswirkungen der Proteste gegen Rassismus, was Barack Obama für Schwarze in den USA verändert hat - und wen sie zur Vizepräsidentin machen würde.

Das nachfolgende Interview stammt aus der Ausgabe des „Twenty/Twenty“-Newsletters des Tagesspiegels zur US-Wahl vom 25.06.2020. Hier können Sie den kostenlosen Newsletter für aktuelle und exklusive Inhalte abonnieren.

Melanye Price (47) ist seit 2019 Politikwissenschaftlerin an der Prairie View A&M Universität in Texas und auf afroamerikanische Politik spezialisiert. Sie schreibt regelmäßig Kolumnen für die „New York Times“. 

Frau Price, kühlt sich der Ärger im Nachgang des Todes von George Floyd gerade ab oder ist die Aufmerksamkeit immer noch hoch?
Die Aufmerksamkeit ist immer noch hoch. Wenn eine Nation zerrüttet wurde, wenn sie einen großen Umbruch erfährt, zum Beispiel einen Krieg oder Unruhen, dann sind das Momente, in denen sie zu verstehen versucht, wer sie ist. Das sind gute Zeiten für Veränderungen, um Gesetze einzubringen, die gerechter für Menschen anderer Hautfarbe sind. Zurzeit sind wir ein Land, das seit mindestens drei Jahren im Chaos lebt – und wir haben einen Präsidenten, der das befördert. Wir haben eine Pandemie, wir haben Millionen Menschen, die jede Woche Arbeitslosenhilfe beantragen. Wenn dann noch ein so polarisierendes Ereignis wie der Tod von George Floyd hinzukommt, fragen wir uns: Sind wir das?
 

Was unterscheidet die gegenwärtigen Proteste von denen im Jahr 2014, als Eric Garner getötet worden war?
2014 waren wir in der zweiten Amtszeit des ersten schwarzen Präsidenten, Barack Obama. Die Leute haben gefragt: Wie kann es systemische Ungerechtigkeit und Rassismus geben, wenn es ein Schwarzer zum Präsidenten gebracht hat? Jetzt haben wir eine Person, die Mexikaner als Vergewaltiger bezeichnet und die das Coronavirus „Kung-Flu“ nennt – wir sind nicht mehr im politischen Kontext von 2014. Das klingt verrückt, weil es weniger als zehn Jahre zurückliegt. Ein Phänomen der amerikanischen Geschichte ist aber: Wenn Gerechtigkeit von Menschen einer bestimmten Hautfarbe eingefordert wird, gibt es oft Widerstand von den Verfechtern weißer Vorherrschaft. Diese Leute haben sich um die Trump-Regierung versammelt.
 

Kam Barack Obama in dieser Hinsicht vielleicht zu früh?

Das würde ich niemals sagen. Fortschritt kommt niemals zu früh. Ich glaube tief im Innern weiß Barack Obama und auch jeder Afro-Amerikaner, dass wir seit mehr als 400 Jahren in diesem Land sind, wir sind seit mehr 150 Jahren Bürger dieser Demokratie. Warum können wir nicht einen Präsidenten haben, der so aussieht wie wir? Meine Familie ist seit mindestens 1865 in Texas. Kann ich nicht einen Gouverneur haben, der so aussieht wie ich, ohne dass weiße Menschen sauer werden, weil sie Macht teilen müssen? Warum können wir die Macht nicht teilen?

Sie haben ein Buch über Barack Obama geschrieben. Was hat er für schwarze Menschen in Amerika verändert?

Ich habe einen zehnjährigen Neffen, der sieben Jahre seines Lebens einen schwarzen Präsidenten erlebt hat. Er ist mit dem Bewusstsein aufgewachsen, dass er mal Präsident werden kann. Das ist kein normales Gefühl für Afroamerikaner, ich habe nicht mal gedacht, dass Barack Obama Präsident wird. Aber er hat die Vorstellung davon verändert, wie Führung in den USA aussehen sollte. 

Er hat zwar Fehler gemacht, wie es alle Präsidenten tun, aber es gab diese wirklich wichtigen Momente, durch die er und seine Familie das Bild von Führung in diesem Land verändert haben. 

Für mich ist es beleidigend, als Afroamerikanerin, Texanerin in fünfter Generation und als Nachfahrin von Sklaven, dass kurz nachdem wir die afroamerikanische Inklusion in die amerikanische Macht gefeiert haben, die Person gefunden wurde, die hart daran gearbeitet hat, diesen Sieg zu unterminieren – und sie dann zum Präsidenten zu wählen.

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In der vergangenen Woche haben wir mit dem Gewerkschaftspräsidenten der Polizei in Chicago, John Catanzara, geredet. Er glaubt nicht, dass Rassismus ein so systemisches Problem ist, wie die Demonstranten behaupten.
Ich glaube er sagt das, um seine Polizisten zu schützen. Sie kennen ja das alte Sprichwort: Wenn man ein Hammer ist, sieht alles wie ein Nagel aus. Wenn man also ein Polizist ist, wirkt zwar nicht jeder wie ein Krimineller, aber wenn man Polizist im städtischen Amerika ist, wirken schwarze Menschen und Latinos wie Kriminelle. Ich würde gerne wissen, warum sie schwarze Menschen öfter anhalten. Wenn man sich die Methode der willkürlichen Durchsuchung („stop and frisk“) in New York City anschaut, wurden viel mehr schwarze Menschen angehalten, und der Großteil dieser Stopps führte nicht zu einer Verhaftung. Wie kann man dann rechtfertigen, eine bestimmte Gruppe von Menschen überproportional zu kontrollieren? So schikaniert man Menschen.
 

Woher kommt die extreme Polarisierung in den USA?
Ich war 2017 im Rahmen einer UN-Initiative drei Wochen lang in Deutschland. Was mir dabei auffiel: Ein Teil der Probleme, die wir gerade in den USA haben, resultiert daraus, dass wir uns nie wirklich mit unserer Geschichte auseinandergesetzt haben. Amerikaner denken nur über ihre Geschichte nach, wenn sie mit Menschen konfrontiert werden, die sie zu Opfern gemacht haben. Die Vertreter der Bürgerrechtsbewegung sagten stets: Ihr habt euch nie mit eurer Geschichte auseinandergesetzt – ihr habt nur Pflaster auf die Wunden geklebt und dann weitergemacht.
 

Inwiefern spielt Trump dabei eine Rolle?
Trump hat viele Personen aus den Bundesbehörden entfernt, die für Gerechtigkeit für Menschen aller Hautfarben eintraten. Schauen Sie sich an, was er mit dem Justizministerium gemacht und wie er eine Phase von aggressivem Rassismus eingeläutet hat. Die Auffassung, dass man nicht rassistisch sein sollte, dass man wenigstens so tut, als sei einem die Gleichberechtigung für Menschen aller Hautfarben wichtig, ist verschwunden – und das liegt daran, dass die Person, die uns auf der nationalen Bühne repräsentiert, selbst rassistische Beleidigungen von sich gibt, ohne darüber nachzudenken.
 

Wird Trump im November aus dem Amt gewählt?
Ich hoffe. Meine zynische Seite sagt, ich habe Amerikaner zu oft das Falsche machen sehen, um jetzt zu glauben, dass etwas anders werden wird. An solchen Tagen glaube ich, dass er eine 50:50-Chance hat. An hoffnungsvollen Tagen glaube ich, dass es eine 55-prozentige Chance für Joe Biden gibt. Trump könnte wiedergewählt werden, aber nicht nur, weil er als als Präsident versagt hat, sondern auch aufgrund anderer Mechanismen – wegen der Unterdrückung bestimmter Wählergruppen zum Beispiel oder weil republikanische Gouverneure einen Lockdown anordnen. Wenn dann eine schwarze Frau mit einem Kleinkind drei Stunden lang im Regen warten muss, um wählen zu können, ist es egal, wer die Kandidaten sind.

Joe Biden wird wahrscheinlich eine schwarze Frau als mögliche Vizepräsidentin nominieren. Ist Amerika bereit dafür?
Die Frage ist: Wird Amerika es wagen? Bevor Barack Obama gewählt wurde, gab es Teile der Bevölkerung, die sich sicher waren, dass er sich in eine Art Black Panther verwandeln und weiße Menschen versklaven wird. Nichts davon ist natürlich passiert, tatsächlich ist das Leben von armen Weißen besser geworden. Wenn man fragt, ob wir dafür bereit sind, würden viele, inklusive schwarzer Personen sagen, nein, sind wir nicht. Aber wenn es dann passiert, stellt sich heraus, wir waren bereit. Also: Ja, wir sind bereit für eine schwarze Vizepräsidentin.
 

Wer wäre denn Ihre Wahl und warum?
Ich liebe Stacey Abrams. Ich glaube, sie ist extrem kompetent. Wenn es nach mir ginge, könnte sie sogar Präsidentin der USA sein. Aber ich glaube nicht, dass Joe Biden sie auswählt. Sie ist nicht verheiratet, hat das Amt der Gouverneurin von Georgia nicht gewonnen. Ich glaube, wenn er eine schwarze Frau wählt, wird es Kamala Harris sein, weil Kalifornien ein großer Staat ist. Harris hat mehr als einmal ein Staatsamt in Kalifornien gewonnen, was schwarzen Frauen nicht oft passiert.
 

Sie haben in einer Kolumne in der „New York Times“ geschrieben, dass sie nicht mehr die Bilder sterbender schwarzer Menschen im Fernsehen sehen wollen. Warum? Bleibt dadurch das Thema nicht präsent?
Wenn wir wissen, dass es ein Problem gibt, müssen wir dann das Video immer wieder gucken? Ich habe nur Ausschnitte von dem George-Floyd-Video gesehen. Man konnte dem aber nicht entfliehen. Es hat sich in mein Gehirn eingebrannt. Musste ich das zehn Tage später noch einmal sehen? Musste ich es aus verschiedenen Perspektiven sehen? Das meine ich. Ich meine nicht, dass wir so etwas niemals sehen sollten. Aber an irgendeinem Punkt wird es pornographisch. Wir sehen solche brutalen Todesszenen übrigens nicht von weißen Personen.
 

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Warum?
Weil man sich aus schwarzen Leben nicht so viel macht, weder im Leben noch im Tod. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie oft ich gesehen habe, wie der 12-jährige Tamir Rice erschossen wurde. Wenn das ein weißes Kind gewesen wäre, hätten wir das nicht so oft gesehen. Auf diese Weise traumatisiert man Menschen. Warum zeigt man nicht einfach ein Bild von George Floyd?
 

Was muss sich für schwarze Menschen in den USA ändern?
Wir brauchen eine Situation, in der Menschen sich mit ihrem eigenen Rassismus konfrontieren. Nichts war so anstrengend in der vergangenen Zeit wie Gespräche mit Weißen über ihren eigenen Rassismus. Ich rede seit 20 Jahren über Rassismus, das ist mein Beruf. Wir beide hätten das gleiche Gespräch vor zehn Jahren führen können. Schwarze Personen wollen immer die gleichen Dinge. Sie wollen ein sicheres Leben führen und nicht nur vor Kriminellen sicher sein, sondern auch vor denen, die sie eigentlich vor Kriminellen schützen sollen. 

Sie wollen Zugang zu gut finanzierter Bildung – genau wie Weiße sie in den Vorstädten haben. Sie wollen bezahlbares Wohnen. Sie wollen eine Krankenversicherung für ihre Kinder. Sie wollen Frieden in ihren Gemeinden. Wir wollen keine schwarzen Unterdrücker sein und Weiße an den Rand drängen. Wir wollen, was die Verfassung uns zusichert. Wir haben das Recht, gleichberechtigt zu sein – nicht mehr und nicht weniger.

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