zum Hauptinhalt

Positiv geladen: Kaum Widerstand gegen Atomkraft in der Türkei

"Wird schon nichts passieren", sagen Türken, wenn sie Sicherheitsvorschriften ignorieren. Das gilt sogar bei der Planung von Atomkraftwerken. Wie jetzt gerade.

In der Teeküche der Grünen-Parteizentrale in Istanbul steht Generalsekretärin Selda Arzuman und putzt Salat. 290 Mitglieder habe ihre Partei landesweit, sagt sie und blickt kurz vom Schneidebrett hoch. Die Grünen sind vollkommen bedeutungslos, und daran ändert auch der Atomunfall in Fukushima nichts. Zulauf? Selda Arzuman zuckt mit den Schultern. „Nö, da tut sich nichts.“

Nebenan im leeren Versammlungsraum sitzt Özgür Gürbüz, 38, der die Partei vor drei Jahren mitbegründet hat und der über seine Landsleute nur den Kopf schütteln kann. Da haben die Türken vor 25 Jahren die radioaktive Wolke von Tschernobyl erlebt, sie wurden Zeugen, wie Behördenschlamperei zu einem schweren atomaren Zwischenfall führte, sie haben gesehen, wie die Regierung in Ankara die Gefahren verschwieg und herunterspielte. Und jetzt, da alle Welt nach dem GAU in Japan aus der Atomenergie aussteigt, will die Türkei einsteigen. Mindestens zwei Reaktoren sollen in den nächsten Jahren entstehen, trotz Erdbebengefahr. Wieder will Ankara nichts von möglichen Risiken wissen – und bei den Türken regt sich kaum Widerstand. Gürbüz ist einer der wenigen Antiatomaktivisten, die sich wehren.

„Ein wenig Strahlung ist bekömmlich“, hatte der türkische Handelsminister Cahit Aral im Jahr 1986 gesagt, als die Tschernobyl-Wolke übers Land zog. Mit Genießermiene trank er vor laufenden Kameras einen dampfenden Tee aus einem bauchigen türkischen Glas. Seht her, alles ist in Ordnung, lautete die Botschaft. Heute ist er 84 Jahre alt und erfreut sich bester Gesundheit. Die Türkei brauche nicht nur zwei oder drei, sondern zehn Atomkraftwerke, fordert er.

Ministerpräsident in den 80er Jahren war Turgut Özal, auch er versicherte den Türken nach Tschernobyl: „Radioaktiver Tee schmeckt besser.“ Staatspräsident Kenan Evren ließ die Türken gar wissen, Radioaktivität sei gut für die Knochen. Die Medien schluckten es, das Volk schluckte es. Zum Teil wortwörtlich: Als Haselnüsse von der türkischen Schwarzmeerküste wegen der Tschernobyl-Strahlung nicht mehr zu verkaufen waren, wurden sie nicht etwa vernichtet, sondern an Soldaten und Schulkinder verteilt.

Dabei waren zumindest einige Politiker von damals weniger überzeugt, als sie taten. Kenan Evren glaubte offenbar seinem eigenen Satz von der knochenpflegenden Strahlung nicht ganz und schickte diskret einen Boten zu der Chemikerin Inci Gökmen, die zuvor zum Ärger der Behörden die Unbekömmlichkeit von verstrahltem Tee nachgewiesen hatte. Der Bote sollte noch mal genaue Informationen zur Radioaktivität einholen. Gökmens Forschung hatte damals nicht nur die Lehrerfamilie Gürbüz auf türkischen Tee verzichten lassen.

Wesentliches habe sich seitdem nicht geändert, sagt Gürbüz. Seit mehr als 20 Jahren kämpft er gegen die Atomkraft, als Journalist, zwischenzeitlich bei Greenpeace, dann, indem er die türkischen Grünen mitgründete. In seinem Versammlungszimmer wirbt ein Transparent für eine „ökologische Verfassung“, eine Karte zeigt den Verlauf eines geplanten dritten Autobahnrings um Istanbul samt neuer Bosporusbrücke, noch so ein Lieblingsprojekt der Regierung. Gegen die Autobahn gibt es wesentlich mehr Widerstand als gegen die Atomkraft. „Bir sey olmaz – wird schon nichts passieren“, lautet ein Lieblingsspruch der Türken, wenn wieder einmal Verkehrsregeln auf der Straße, Sicherheitsvorschriften im Betrieb oder Erdbebenregeln bei Bauprojekten ignoriert werden. Oder wenn Atomkraftwerke gebaut werden sollen.

„Wir vergessen schnell“, sagt Gürbüz über die Türken und die verblassende Erinnerung an Tschernobyl, die Katastrophe vor der Haustür, die doch aktueller ist denn je. „Heute ist zwar jeder im Internet und könnte sich informieren. Aber alle gehen eh nur auf Facebook.“

Und so kann es sich die Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan drei Monate vor der Parlamentswahl am 12. Juni 2011 ohne Weiteres leisten, trotz der Katastrophe von Japan den Einstieg in die Atomkraft voranzutreiben. Das Thema wird in der Türkei kaum diskutiert. „Und keine einzige Partei im Parlament ist konsequent gegen die Atomkraft“, sagt Gürbüz. Auch der Hilfseinsatz von Spitzenpolitikern der europäischen Grünen beim Kampf gegen die Atomkraft in der Türkei brachte bisher nichts. Bei einem Besuch in Istanbul beschwor Daniel Cohn-Bendit im vergangenen Herbst den türkischen Außenminister Ahmet Davutoglu, die Türkei solle in der Energiepolitik doch lieber auf Zukunftstechnologien wie die reichlich vorhandene Sonnen- und Windenergie setzen statt auf Atomkraft. Davutoglu lächelte Cohn-Bendit freundlich an. „Die Türkei ist nicht Deutschland oder Frankreich“, dozierte der Politikprofessor dann. „Wir brauchen das Wirtschaftswachstum. Und wir brauchen die Energie schon morgen.“ Deshalb müssen Atomkraftwerke her.

Außer den unmittelbar vom geplanten Kraftwerksbau in ihrer Region betroffenen Menschen wehrt sich in der Türkei kaum jemand gegen die Bauprojekte. Bei einer Demonstration gegen die Atomkraft in Istanbul mussten sich kürzlich die Teilnehmer einen Weg durch Massen flanierender Shopper bahnen, die sich offenbar keine allzu großen Sorgen über eine verstrahlte Zukunft machten. Antiatomaktivist Gürbüz erzählt von der Begegnung mit Menschen, für die Atomkraftwerke und Atomwaffen ein und dasselbe sind – und die deshalb begrüßen, dass sich die Türkei welche anschafft.

Auf den Straßen Istanbuls ist von gesellschaftlicher Empörung ebenfalls nichts zu spüren. „Echt? Wir bauen ein Atomkraftwerk?“, fragt Aziz Günaydogan, der auf der Einkaufsstraße Istiklal Caddesi, einen Steinwurf vom Altbau der Grünen entfernt, Werbezettel für eine Sprachschule an Passanten verteilt. Dass sein Land seine ersten Reaktoren bauen will, ist ihm neu. Die Unfälle in Japan geben ihm ein wenig zu denken, aber nur ein wenig. „Da sollten unsere Politiker besser mal vorsichtig sein.“

Vorsicht ist allerdings nicht das allererste Wort, dass sich aufdrängt, wenn man sich die Stellungnahmen der türkischen Regierung zum Thema Atomenergie anschaut. Erst vergangene Woche zwar verkündete Erdogan, das erste türkische Atomkraftwerk der Türkei, das für 20 Milliarden Dollar von russischen Unternehmen in Akkuyu an der Mittelmeerküste gebaut werden soll, werde weltweit beispielhaft sein. Doch Gürbüz und andere Kritiker haben da ihre Zweifel. Vor 13 Jahren wurden bei einem Erdbeben rund 120 Kilometer östlich von Akkuyu in der Großstadt Adana rund tausend Menschen getötet. Laut Experten verläuft nur rund 30 Kilometer vom geplanten Kraftwerksstandort entfernt eine aktive tektonische Verwerfungslinie.

In Deutschland wurde das in einer erdbebengefährdeten Region von Rheinland-Pfalz errichtete Atomkraftwerk Mülheim-Kärlich gar nicht erst eingeschaltet. Auch stammt die Genehmigung für Akkuyu noch aus den 70er Jahren, als die Erdbebengefahr in der Region längst noch nicht so gut erforscht war wie heute, doch das stört den Regierungschef nicht. Schiefgehen könne schließlich überall etwas, teilte Erdogan seinen Landsleuten mit: Auch die von vielen Türken zum Kochen benutzten Gasbehälter könnten in der Küche explodieren. Aber deshalb verzichte doch niemand auf die Behälter. „Auch beim Autofahren geht man ein Risiko ein“, sekundierte Umweltminister Veysel Eroglu.

Über den Bau des zweiten türkischen Reaktors in Sinop an der Schwarzmeerküste verhandelt Erdogans Regierung ausgerechnet mit Tepco, jenem japanischen Unternehmen, das die Unglücksreaktoren von Fukushima betreibt. Auch hier sieht Ankara kein Problem. Die türkischen Kraftwerke würden hochmoderne Anlagen der dritten Generation sein, viel sicherer als die veralteten Reaktoren der ersten Generation in Fukushima, verspricht Energieminister Taner Yildiz. „Was wir brauchen, sind nicht Reaktoren der dritten Generation, sondern Politiker der dritten Generation“, lautet der Kommentar von Gürbüz.

Und vielleicht auch Kontrolleure der dritten Generation. Durch das eklatante Versagen der Aufsichtsbehörden hat die Türkei das Kunststück fertig gebracht, als einziges Land ohne Atomkraftwerk oder Atomwaffen auf der „Internationalen Bewertungsskala für nukleare Ereignisse“ zu landen, einer Liste ernster Atomunfälle. Im Dezember 1998 und im Januar 1999 tauchten zwei Transportbehälter für medizinisch verwendetes, hochradioaktives Kobalt-60 auf einem Istanbuler Schrottplatz auf. Eine Handelsfirma hatte die Container einem Schrotthändler verkauft. Der fingerte mit seiner Familie und seinen Mitarbeitern an den Metallkästen herum, öffnete sie und nahm sie auseinander. Fast 20 Menschen, darunter sieben Kinder, wurden verstrahlt. Der Unfall wurde erst bekannt, als der Schrotthändler und seine Familie ins Krankenhaus eingeliefert wurden.

Ikitelli erreichte auf der Unfallskala der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA die Stufe 3 – das ist ein „ernster Zwischenfall“. Die Unfälle in Fukushima hatten zwischendurch die Stufe 4, inzwischen wurden sie auf 6 hochgestuft, Tschernobyl war eine Katastrophe der Höchststufe 7.

Ein Gericht verurteilte die türkische Atomkontrollbehörde TAEK später zur Zahlung von Schmerzensgeld an die Familie des Schrotthändlers, weil sie bei der Aufsicht über den Verbleib des radioaktiven Materials versagte. Nach dem Mini-GAU von Istanbul verhielten sich die TAEK-Mitarbeiter immer noch so, als ginge es um einen verloren gegangenen Kasten Limonade und nicht um radioaktives Material. „Die stocherten mit Stöcken herum“, erinnert sich Gürbüz. Tatsächlich untersuchten die TAEK-Mitarbeiter damals den Schrottplatz mit Rechen und ohne Schutzkleidung.

Kann ja mal vorkommen, lautet das Fazit des Berichts über den Ikitelli-Unfall auf der TAEK-Website: „Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen kommt es immer wieder zu Unfällen mit nuklearem Material.“ Genau diese TAEK wäre für die Kontrolle der türkischen Atomkraftwerke zuständig. „Es gibt auf der ganzen Welt keine andere Institution, die man so weit von einem Atomkraftwerk fernhalten sollte wie die TAEK“, sagt Atomkraftgegner Gürbüz. Viel mehr als Galgenhumor bleibt ihm nicht in dem hoffnungslos erscheinenden Kampf, den er führt. „So ein Land, so eine Energiepolitik gibt es nirgendwo sonst in Europa“, sagt er und schüttelt wieder den Kopf. „Eigentlich müsste ich verrückt werden, aber ich habe mich daran gewöhnt.“ Zum anstehenden Tschernobyl-Jahrestag organisiert er eine neue Demonstration gegen die Atomkraft. Wie viele Teilnehmer kommen werden, weiß er nicht.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false