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Minister Jens Spahn und RKI-Chef Lothar Wieler.

© REUTERS

Kliniken am Limit, aber Impfstart naht: Die Weihnachtshoffnung des Jens Spahn

Irgendwie die Corona-Kurve kriegen. So lautet das Ziel. Vor dem Lockdown räumt der Gesundheitsminister eine Fehleinschätzung ein, sieht aber einen Lichtblick.

Sandra Ciesek könnte jetzt über Kurven und Zahlen zur Ausbreitung dieses Sars-CoV-2-Virus referieren. Oder die teils dramatischen Langzeitfolgen schildern. „Aber ich möchte Ihnen lieber von einem Telefonat berichten, das ich am Wochenende mit einem alten Freund und Kollegen geführt habe“, sagt die Direktorin des Instituts für Medizinische Virologie am Uniklinikum Frankfurt.

Zu ihrer Linken sitzen RKI-Chef Lothar Wieler und Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) in der Bundespressekonferenz. Cieseks Freund arbeitet als Arzt auf einer Intensivstation einer großen Uni-Klinik.

Von einer Arbeitsbelastung am Anschlag berichtet er, von Pflegermangel, Bettensperrungen und zunehmender Frustration. „Die Krankheit selbst frustriert ihn, die bittere Erkenntnis, dass man den Patienten medizinisch nur sehr eingeschränkt helfen kann.“ Außerdem gebe es kaum noch Zeit zum Luftholen, die Versorgung von schwer kranken Covid-19-Patienten sei auch körperlich enorm anstrengend.

Zudem frustriere ihn, dass das alles auch die Folge des Fehlverhaltens derjenigen sei, die sich nicht zusammenreißen konnten und Regeln ignorierten. Und dann sei das Gefühl der fehlenden Wertschätzung der Gesellschaft. „Früher gab es Applaus vom Balkon und Aufmerksamkeit für die Krankenhausmitarbeiter. Das hat erheblich abgenommen.“ Dabei sei die Situation viel angespannter als im Frühjahr.

Als Ciesek redet, ist es ganz still

Was solle man denken, wenn der Freund jeden Tag sterbende Menschen sehe, dazu die Angst sich selbst anzustecken und dann auf den Straßen Leute sehe, die Corona leugnen „und diejenigen beschimpfen, die sich an die Regeln halten.“ Hinter jedem Fall stehe ein Schicksal, bei Überlebenden oft mit schweren Folgeschäden, es drohe zudem der schrittweise Kollaps des Gesundheitssystems.

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Es ist sehr still im Saal, Wieler nickt ihr zu, aus seiner Sicht ist die „Lage so ernst, wie sie noch nie war in dieser Pandemie.“ Es gebe aktuell einen Höchststand an Infizierten und da schwere Verläufe und Todesfälle immer erst mit einem gewissen Zeitverzug eintreten, "müssen wir uns darauf einstellen, dass sich die Situation über Weihnachten auch noch zuspitzen wird“, so Wieler.

Die Virologin Sandra Ciesek fordert mehr Aufmerksamkeit für die Pfleger und Ärzte.
Die Virologin Sandra Ciesek fordert mehr Aufmerksamkeit für die Pfleger und Ärzte.

© dpa

Es geht bei diesem Termin mit dem Titel „Corona-Lage vor Weihnachten“ aber sonst fast nur um ein Zukunftsthema, das diese Pandemie eindämmen soll: das große Impfen. Ciesek und Wieler lenken aber den Blick darauf, dass bis dahin noch viel Leid zu ertragen sein wird, gerade in den Pflegeheimen ist die Lage teils dramatisch.

Viel zu spät haben Bund und Länder aus Sicht der Opposition eine Schnelltest-Pflicht für das Personal verfügt (erst beim jüngsten Schalt-Gipfel am Sonntag wurde das beschlossen) und lassen erst seit 10. November schrittweise bundesweit alle Heime mit FFP2-Masken versorgen., die Kosten für Tests und Masken trägt der Bund.

Spahn räumt Fehleinschätzung ein

Ab diesem Mittwoch wird wegen der Wucht der zweiten Welle zum zweiten Mal das öffentliche Leben heruntergefahren, auch Läden und Friseure müssen wieder schließen, was Spahn im September ausgeschlossen hatte („Das wird nicht noch mal passieren“).

Spahn antwortet darauf entwaffnend ehrlich, er habe da schlicht falsch gelegen. Man schließe die Bereiche nicht, weil ein bestimmter Bereich der Infektionstreiber sei, sondern wegen der Menschenansammlungen, insbesondere in Shopping-Malls. So ein Infektionsgeschehen wie derzeit würde das Land sonst in zwei, drei Wochen „in ganz andere Situationen bringen“.

„In so einer Lage zu sagen, nur damit ich mit einer Aussage am 1. September auf dem Marktplatz in Bottrop Recht gehabt habe, da darf jetzt aber bitte nichts passieren – das fände ich keine verantwortliche Politik.“

Es ist ein ständiger Abwägungsprozess, auch beim Impfen. Als Spahn um 11.30 Uhr die Bundespressekonferenz betritt, liest er auf seinem Smartphone, dass die Europäische Arzneimittelbehörde (EMA) bereits bis zum 23. Dezember und nicht erst am 29. Dezember über die Zulassung des in Deutschland entwickelten Impfstoffes des Mainzer Unternehmens Biontech und seines US-Partners Pfizer entscheiden will.

„Das Ziel ist, eine Zulassung noch vor Weihnachten zu erreichen“, betont Spahn umgehend erwartungsfroh, muss aber im weiteren Verlauf einräumen, dass er bisher keine Bestätigung der EMA kennt.

Erst wird der 23. Dezember dementiert, später teilt die EMA dann mit, dass sogar schon am kommenden Montag über eine Zulassung des Corona-Impfstoffs beraten wird. Das Treffen sei vom 29. auf den 21. Dezember vorgezogen worden. Spahn betont, nach grünem Licht der EMA gehe es in zwei bis vier Tagen los, was bedeuten würde: Pünktlich zu Weihnachten werden die ersten Bürger geimpft sein.

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Spahn betont, man gehe hier halt einen anderen Weg als Großbritannien oder die USA. „Wir machen keine Notfallzulassung, sondern eine ordentliche Zulassung.“ Das deutsche Paul-Ehrlich-Institut unterstützt die EMA bei der Prüfung all der Unterlagen

„Wir machen das europäisch und nicht national“, betont Spahn – so sollen auch alle 27 EU-Staaten gleichzeitig und entsprechend ihrer Bevölkerungszahl Impfdosen bekommen. „Das Wir ist stärker als das Ich“, appelliert Spahn an gelebte europäische Solidarität.

Und die ordentliche Prüfung sei auch entscheidend, damit möglichst viele Bürger sich impfen lassen, dem Stoff vertrauen. „Das wird die erste ordentliche Zulassung eines Corona-Impfstoffes auf der Welt sein.“ Neben grundsätzlichen Impfgegnern gebe es viele, die erstmal skeptisch seien.

„Wir sind nicht eure Versuchskaninchen“

Die gelte es mit einem akribischen, engmaschigen Zulassungsverfahren, das auch alle Nebenwirkungen gut prüft, zu überzeugen. Er bekomme nämlich Post von Bürgern, die schrieben: „Wir wollen nicht eure Versuchskaninchen sein.“ Spahn betonte: "Nichts ist wichtiger beim Impfen als Vertrauen in den Impfstoff."

Alena Buyx, die Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, betont, die Priorisierung zwischen Risikogruppen gerade am Anfang seit eine schwierige Abwägung. „Es geht hier wirklich ums Eingemachte.“ Es sei sinnvoll, mehrgleisig zu impfen, um die Impfzentren zu entlasten – die Menschen in Pflegeheimen könnten dort geimpft werden, Mitarbeiter im Gesundheitswesen in ihren Einrichtungen.

Auch in Kanada, hier in Ottawa, hat das große Impfen begonnen.
Auch in Kanada, hier in Ottawa, hat das große Impfen begonnen.

© REUTERS

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) dämpfte in der Unions-Fraktion die Hoffnungen. „Das Impfen wird uns helfen, aber wie lange es dauert, wissen wir nicht“, sagte Merkel laut Teilnehmern. Dies mache eine Langfrist-Strategie gegen die Pandemie schwierig. Merkel zeigte sich besorgt über die Infektionszahlen.

Sie hoffe, „dass das Einkaufsverhalten jetzt am Montag und Dienstag uns nicht nach hinten wirft“, wurde die Kanzlerin laut AFP zitiert. „Die Kurve in Deutschland sieht sehr schlecht aus. Wir steuern auf einen Inzidenzwert von 200 für ganz Deutschland zu.“

6,5 Millionen Geimpfte bis Ende März?

Zuletzt war gerade in Deutschland der Druck auf die EMA gewachsen, da alle Impfzentren startbereit sind und jede Woche ohne Impfstart die Opferzahlen weiter erhöht. Spahn verspricht trotz Problemen von Biontech/Pfizer beim Hochfahren der Produktion, dass bis Ende März in Deutschland 11 bis 13 Millionen Impfdosen zur Verfügung stehen.

Damit könnten bei zwei Dosen je Bürger 6,5 Millionen geimpft werden, zudem gibt es die Hoffnung, dass im Januar auch der Moderna-Impfstoff zugelassen wird. Es ist geplant, in einem ersten Schritt alle Menschen über 80 sowie Bewohner und Personal von Pflegeheimen zu impfen.

Bis Ende des Sommers sollen mindestens 60 Prozent der Bevölkerung geimpft sein. Ein solcher Prozentsatz gilt laut WHO als Wert, bei dem eine Pandemie nachhaltig eingedämmt sein sollte, was zum Beispiel auch Urlaubsplanungen erleichtern und eine schrittweise Rückkehr des „normalen“ Alltags würde. Und ein weiterer Lockdown könnte dann vielleicht wirklich ausgeschlossen sein und bleiben.

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