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Regine Günther (Bündnis 90/Die Grünen Berlin), Senatorin für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz.

© Mike Wolff

Regine Günther im Gespräch: „Wir müssen die Stadt insgesamt neu denken“

Berlins grüne Verkehrssenatorin Regine Günther über Maßnahmen zum Klimaschutz, die Verkehrswende und eine menschenfreundliche Metropole. Ein Interview.

Es ist viel von der gereizten Gesellschaft die Rede, warum wirkt die Politik oft hilflos gegen das Rowdytum und die täglichen Konflikte auf Berlins Straßen?
Es gibt eine Entwicklung, Verkehrsregeln nicht mehr so zu konsequent zu beachten. Das ist fatal, weil mit mehr Autos und mehr Fahrrädern die Regeln umso mehr eingehalten werden müssen. Wir brauchen hier bessere Kontrollen. Deshalb ist es gut, dass wir mit dem neuen Doppelhaushalt die Fahrradstaffel der Polizei auf 100 Beamte aufgestockt haben. Verkehrsschilder stehen eben nicht zu Dekorationszwecken da. Wir färben zudem die Radwege grün, weil wir allen klar signalisieren wollen, dass dies der Raum für Radfahrende ist. Früher gab es das Verständnis, die ganze Straße gehört dem Auto, und der Rest muss zusehen, wie er klarkommt. Damit muss endlich Schluss sein.

Sie haben gesagt, Sie wollen, dass die Menschen ihr Auto am besten abschaffen, haben Sie selbst es abgeschafft?
Ich habe einen Dienstwagen. Privat habe ich seit Anfang der 90er kein Auto mehr.

Die Leute auf dem Land haben Angst vor zu starken Einschnitten durch die aktuelle Klimadebatte, die können ihr Auto nicht einfach abschaffen.
Meine Aussage gilt für hochverdichtete Räume in Großstädten. Wenn jemand mit dem Elektroauto auf dem Land rumkurvt, warum nicht?

Die AfD nutzt diese Debatten, um den Klimaschutz zum Angstthema zu machen…
Klima hatte weltweit noch nie so eine Aufmerksamkeit wie jetzt. Darauf haben wir lange hingearbeitet. Die Jugend hat jetzt übernommen und sagt: Wir akzeptieren nicht mehr, was ihr treibt und wie ihr uns die Erde übergeben wollt. Das ist eine historische Chance. Man darf nicht vergessen, dass die Klimaerhitzung das Leben von Milliarden Menschen dramatisch verschlechtert und Naturräume zerstört.

Wir waren aber von der Politik schon einmal weiter. Was ist schief gelaufen?
Es wurden Ziele gesetzt, aber keine angemessenen Maßnahmen verankert. Leider hat man sehr bewusst in Kauf genommen, dass die 40 Prozent Emissionsminderung bis 2020 nicht erreicht werden. Konsequentes Handeln wie eine frühzeitige Abschaltung von Kohlekraftwerken, Gebäudedämmung oder die Entwicklung und Förderung von Alternativen zu fossilen Verbrennungsmotoren sind unterblieben. Stattdessen beschäftigen wir uns immer noch viel zu sehr mit Placebos.

Zum Beispiel?
Zum Beispiel die Frage, ob Tretroller nun ein Beitrag zum Klimaschutz sind. Es wäre wesentlich wichtiger, man beschäftigte sich mit Gebäudedämmung. Wir sind bei einer energetischen Sanierungsrate von 0,7 Prozent. Das ist einfach nicht akzeptabel – wir müssten bei 2,4 bis 2,6 Prozent sein.

Hat nicht der Atomausstieg mit Einleitung der Energiewende zu viel politische Kraft gekostet, um parallel den Klimaschutz auf anderen Feldern, etwa im Verkehr- und Gebäudebereich voranzutreiben?
Das ist eine Ausrede. Der Klimawandel erfordert schnelles konsequentes Handeln in allen Sektoren. In Deutschland ist aber in den meisten Sektoren viel zu wenig passiert.

Sollte Berlin den Klimanotstand ausrufen, wie andere Städte?
Es steht außer Frage, dass wir uns bereits mitten in der Klimakrise befinden – unabhängig davon, ob wir sie nun explizit ausrufen oder nicht. Es ist höchste Zeit zu handeln: Das ist der Grund, warum Berlin bis 2030 komplett aus der Kohleverbrennung aussteigen wird und ein Klimaschutzprogramm mit 100 Maßnahmen auf verschiedenen Handlungsfeldern aufgelegt hat, das es konsequent umzusetzen gilt. Aber wir müssen noch viel weiter denken: Angesichts der Klimadramatik sollten die neuen Stadtquartiere in Berlin aus meiner Sicht von Anfang an weitestgehend autofrei entwickelt werden. Wir brauchen dringend klimafreundliche Mobilität und massive Gebäudedämmung. Ansonsten werden wir unsere Klimaziele nicht erreichen.

Der Alltag auf Berliner Straßen besteht aus permanenten Konflikten, aus Meldungen über getötete Radfahrer und aus Frust über Autos, die die Straßen verstopfen und rücksichtslos geparkt werden.
Durch die kontinuierlich ansteigende Zahl von Autos hat sich die Problemlage deutlich verschärft. Mit unserem Mobilitätsgesetz haben wir erstmals eine gesetzliche Grundlage geschaffen für den Umbau des Verkehrs mit Vorrang für den Umweltverbund, also für Bahnen, Busse, für Rad- und Fußverkehr. Mit dem neuen Nahverkehrsplan haben wir den Ausbau des öffentlichen Verkehrs bereits finanziell unterlegt, den Ausbau des Radverkehrsnetzes haben wir begonnen. Den Anteil klimaschädlicher und Platz fressender Autos kann man über verschiedene Instrumente reduzieren – etwa mit der ebenfalls beschlossenen Ausweitung der Parkraumbewirtschaftung oder über eine City-Maut.

Die sich nach dem Gewicht oder dem Verbrauch des Autos richten kann?
Das kann eine Variante sein. Eine City-Maut ist ebenso denkbar wie eine Nahverkehrsabgabe für alle, die mit dem Auto in die Innenstadt fahren. Auch ein Touristenticket zur Mitfinanzierung des ÖPNV kommt in Betracht. Nach meiner Überzeugung brauchen wir ein Instrument, das den Autoverkehr reduziert und zugleich zur Finanzierung des öffentlichen Nahverkehrs beiträgt. Diese Kombination ist mir wichtig.

Welche Variante wäre Ihnen als Verkehrssenatorin die liebste?
Ich habe mich noch nicht festgelegt. Wir werden die Vor- und Nachteile der einzelnen Modelle analysieren und bewerten.

Grünen-Verkehrsexperte Oliver Krischer hat nach dem Unfall mit vier Toten in Berlin gefordert, große SUVs in Innenstädten zu verbieten – kann das die Lösung sein?
Wir müssen zunächst die Ursache klären, um konkrete und zielführende Schlüsse ziehen zu können. Eine Debatte über einzelne Autotypen verengt die eigentliche Problematik: Bei der Verkehrssicherheit stehen für mich Entschleunigung und eine bessere Infrastruktur im Zentrum. Wir müssen die Stadt insgesamt neu denken, denn wir haben mehrere Gruppen, für die bisher keine angemessenen Lösungen umgesetzt sind. Das betrifft den Radverkehr, aber auch Fußgänger und Kinder, die Bereiche zum Spielen brauchen.

Sie sind jetzt seit fast drei Jahren für den Verkehr in Berlin zuständig. Noch immer kommen Klagen aus allen Ecken der Stadt, weil Menschen die Verwaltung vergeblich um Fußgängerampeln, 30er-Schilder oder wenigstens Halteverbote vor Schulen anbetteln. Kann die Verwaltung die Verkehrswende nicht schneller vorantreiben – oder will sie es nicht?

Die Verkehrswende steht im Zentrum aller unserer Anstrengungen. Trotzdem ist sie nicht auf Knopfdruck zu haben. Hier in Berlin treffen die Wünsche von 3,6 Millionen Menschen auf eine Verwaltung, die in den vergangenen Jahren stark geschrumpft ist und erst jetzt wieder ertüchtigt wird. Weil so viel liegen geblieben ist, schieben wir eine Bugwelle dringlicher Aufgaben vor uns her – etwa die Sanierung der vielen maroden Brücken. Aber das sind nur die Altlasten. Wir haben uns zugleich umfassende Veränderungen vorgenommen: Verkehrswende bedeutet den Wandel von der alten autogerechten Stadtgestaltung hin zu teils völlig neuen Konzepten einer modernen, menschenfreundlichen Metropole. Sicher, mobil, klimaschonend – statt autogerecht. Das ist das Ziel. So etwas ist nicht in zwei oder drei Jahren zu stemmen. Aber bis zum Jahr 2030 wird Berlin sich deutlich verändert haben. Das ist unser Fixpunkt.

Teilweise haben Sie ja noch nicht einmal den Überblick, was gerade in Arbeit ist. Wie kann es sein, dass Ihre Verwaltung auf eine parlamentarische Anfrage zum Stand des Radwegeausbaus antwortet, es gebe keine Statistik zum Status Quo?
Weil bei meiner Amtsübernahme keine stadtweite Datenbank vorlag, erarbeiten wir sie jetzt. Nächstes Jahr soll sie online gehen – mit belastbaren, aktuellen Daten. Aktuell sprechen wir mit den Bezirken einmal im Quartal zu den Fortschritten. Die Senatsverwaltung ist ja in der überwiegenden Zahl der Fälle nicht der Baulastträger für Radwege – das sind in Berlin die Bezirke.
Wir planen mit ihnen und reichen das Geld aus. Und natürlich gibt es hier auch Friktionen und Informationslücken. Genau deshalb haben wir ein Reformprojekt initiiert, um die Planung und den Bau von Radverkehrsanlagen zu beschleunigen. Da geht es insbesondere um die Schnittstellen zwischen Hauptverwaltung, Bezirken und weiteren Beteiligten. Wir werden es Ende 2020 abschließen und vorstellen.

Die Berliner Grünen haben eine Nullemissionszone gefordert, also ein Verbot von Verbrennungsmotoren in der Hauptstadt ab 2030. Wie realistisch ist das?
Das Ziel finde ich gut und richtig, für wirksamen Klimaschutz führt kein Weg daran vorbei, sich möglichst schnell vom Verbrennungsmotor zu verabschieden. Ich erwarte für die Jahre 2022/23 in Deutschland Durchbrüche im Bereich der E-Mobilität. Dann wird man sehen, was wie schnell machbar ist. Dass wir als Politik den Menschen signalisieren, sich lieber schon heute nach E-Autos als nach neuen Verbrennern umzuschauen und nicht erst 2028, finde ich in jedem Fall richtig.

Und wie kontrolliert man die E-Auto-Umweltzone?
Beispielsweise anhand der Nummernschilder, auf denen Elektroautos durch das E leicht erkennbar sind. Insofern wäre die Kontrolle einfacher als beispielsweise bei den aktuellen Dieselfahrverboten.

FDP-Chef Christian Lindner hat die Grünen im Bundestag gerade wieder als Verbotspartei gegeißelt und gefordert, stärker auf technologischen Fortschritt zu setzen, etwa durch synthetische Kraftstoffe. Was halten Sie von dieser Alternative?
Der Mythos von den Grünen als Verbotspartei wird schon lange gepflegt, obwohl die Partei seit langem mit einem Instrumentenmix die Zukunft gestalten will. Ein erfolgreiches Beispiel ist hier das Erneuerbare-Energien-Gesetz oder auch der Emissionshandel. Was synthetische Kraftstoffe betrifft, so ist das bis auf Weiteres Zukunftsmusik. Ganz im Gegensatz zu Elektromobilität: Hier sind immer mehr Autos verfügbar, auch wir als Stadt kaufen aktuell Elektrobusse. Wir wollen nicht mehr warten, sondern jetzt handeln und investieren.

Regine Günther will den Ausbau der erneuerbaren Energien wieder beschleunigen.
Regine Günther will den Ausbau der erneuerbaren Energien wieder beschleunigen.

© Mike Wolff

Was ist also kurzfristig zu tun?
Wir müssen den Ausbau der erneuerbaren Energien dringend wieder beschleunigen. Ein weiteres zentrales Element ist die Besteuerung von CO2. Dies ließe sich kurzfristig regeln und wäre viel weniger kompliziert als ein nationaler Emissionshandel für den Verkehr und für Gebäude, wie es die Union nun offenbar anstrebt. Aus meiner früheren Tätigkeit beim WWF weiß ich, wie viel Zeit so etwas braucht – das kann leicht sechs Jahre dauern. Wir brauchen Regelungen, die den Kauf klimafreundlicher Fahrzeuge fördern und umgekehrt den Kauf klimaschädlicher Fahrzeuge signifikant verteuern.
Eine CO2-Steuer würde darüber hinaus auch das Fahren spritfressender Autos teurer machen. Gleichzeitig müssen die Alternativen zum motorisierten Individualverkehr – also der ÖPNV, der Radverkehr – gefördert und schnell ausgebaut werden. Auch die Ladeinfrastruktur für Elektromobilität braucht eine rasche Erweiterung. Wobei ich mit E-Mobilität ausdrücklich nicht nur Autos meine, sondern auch E-Bikes und etwa die neuen Scooter.

Diese Roller sollen schon in der nächsten Saison nicht mehr auf Gehwegen herumstehen und -liegen, sondern an besser geeigneten Stellen, etwa auf der Fahrbahn. Meinen Sie, dass dieser Termin zu halten ist?
Davon gehe ich aus. Übrigens sollten wir bei aller Kritik an den Scootern die Maßstäbe nicht aus den Augen verlieren. Wir haben in Berlin mindestens 6000 solcher Roller, aber 1,4 Millionen Autos. Wenn die CDU jetzt fordert, falsch geparkte E-Roller nach 24 Stunden zu verschrotten, dann müsste diese Maßnahme doch für alle gleichermaßen gelten. Sollen wir nach dieser Logik falsch geparkte Autos gleich mitverschrotten?
Glauben Sie, dass die E-Roller auch nur eine Autofahrt ersetzen? Im Stadtbild sind auf den Geräten nur Touristen und spaßbedürftige Jugendliche unterwegs.
Es ist zu früh für ein Urteil. Wir sollten diesem Verkehrsmittel Zeit geben, sich zu entwickeln. Vielleicht stellt sich ja heraus, dass die Roller den ÖPNV entlasten oder ergänzen. Trotzdem müssen sich die Roller künftig besser ins Stadtgefüge einpassen.

Sie waren gerade in Kopenhagen, das als Inbegriff der fahrradfreundlichen Stadt gilt. Was haben Sie dort gelernt?
Ich hatte gedacht, dass sich viele Elemente von dort einfach auf Berlin übertragen lassen. Aber in Wahrheit ist Kopenhagen auch eine autogerechte Stadt – in der es allerdings ein gutes Radwegenetz gibt. Der öffentliche Raum ist dennoch auch in Kopenhagen im Wesentlichen auf das Auto zugeschnitten. Probleme wie hoher Flächenverbrauch oder fehlende Versickerungsflächen für Starkregen sind dort bisher genauso ungelöst wie bei uns.
Mit dem Radwegebau wurde dagegen schon vor 40 Jahren begonnen, das sieht man natürlich. Hier hat Kopenhagen einen Vorsprung, wobei auch dort viele Kreuzungen und Baustellen oft problematisch sind. Die ideale, für schwächere Verkehrsteilnehmende hundertprozentig sichere Kreuzung gibt es dort auch nicht.

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