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Großes im Sinn. Sigmar Gabriel sucht den richtigen Moment. Ein Fehler – und er ist weg.

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SPD im Koalitionspoker: Sigmar Gabriel und die Mammutaufgabe

SPD-Chef – das Amt ist sowieso nicht einfach. Aber so kurz vor möglichen Koalitionsverhandlungen wird es noch schwieriger. Ein Blick auf Sigmar Gabriel.

Er ist so still. Für seine Verhältnisse. Das ist so ungewöhnlich. Ja, er kann auch still sein, nicht nur laut oder geradezu polternd, wie seine Gegner immer sagen. Und von denen hat er viele, der Sigmar Gabriel, der SPD-Parteivorsitzende. Es ist nicht so, als ob er alle, Genossen und andere, im Sturm erobern und von sich überzeugen würde. Das braucht seine Zeit. Dabei ist er enorm präsent. Betritt er einen Raum, ein Lokal, dann ist er da, auch ohne Entourage spürbar. Seine Präsenz ist, sagen wir, wuchtig. Es ist das Lächeln, das ihn im Auftritt mildert. Denn es ist ziemlich lausbubenhaft, was nur am Rande mit seiner Leibesfülle zu tun hat. Doch, man muss das gleich mal sagen, weil es immer wieder ein Thema ist, in der Partei und darüber hinaus, meist dann, wenn er nicht da ist, oder hinter vorgehaltener Hand: Hätte er 20 Kilo weniger … Dann sähe die Sache anders aus, dann …

Die eine Sache ist die: Gabriel hat jetzt den größtmöglichen politischen Brocken zu bewältigen, Koalitionsverhandlungen aus unterlegener Position. Die andere: Ist er, wie er ist, ein Kandidat für hohe und noch höhere Ämter, also nicht nur für den Parteivorsitz der SPD, das zweitschönste Amt nach dem des Papstes, wie Vorvorgänger und Oberministrant a. D. Franz Müntefering mal halb im Scherz sagte? Dazu müsste er hochseriös wirken, und auf manche wirkt er so eben nicht. Was ihn schmerzt, natürlich, obwohl er darüber hinweggeht, wenn man ihn fragt. Nun kann das alles auch seine Ursachen haben, die nicht auf dem offenen Markt der Eitelkeiten verhandelt werden sollten.

Sigmar Gabriel, der so öffentlich zugänglich wirkt, der so öffentlichkeitssuchend erscheint, kann sehr zugeknöpft sein und unzugänglich. Sein Witz, der zweifellos vorhandene, ist dann nicht weniger schneidend als der von – nehmen wir doch mal – Peer Steinbrück. Seine Haut zu Markte zu tragen, das liegt Gabriel politisch. Aber nicht alles Private ist für ihn politisch, wie die alte Linke immer meinte.

Ja, der alte Linke Gabriel, das ist auch so ein Urteil. Er war „Falke“ bei den Sozialdemokraten in seiner Jugend, und das sind nicht die ganz Linken, obwohl sie aus einem sozialistischen Jugendverband hervorgegangen sind. Er war bei der Bundeswehr, zwei Jahre, als Obergefreiter. Er war Lehrer in den Fächern Deutsch und Gemeinschaftskunde beim Bildungswerk der Volkshochschule in Goslar am Harz. Er war der, der in der Agenda 2010 eine „objektive Gerechtigkeitslücke“ entdeckte. So einer ist nur landläufig links. Aber dann wäre eine – nehmen wir mal – Angela Merkel auch links.

Angela Merkel orientiert sich immer mal wieder an ihm und dem, was er sagt

Überhaupt spielt die Unterscheidung in links und rechts heute weniger denn je eine Rolle, diese „Gesäßgeografie“, wie sie Heiner Geißler, der legendäre CDU-Generalsekretär, mal nannte. Geißler ist übrigens heute auch ganz schön links, nach alten Maßstäben. Und Merkel orientiert sich immer mal wieder an ihm und dem, was er sagt. Geißler stand nun auch auf der Bühne der CDU nach dem großen Wahlsieg, keiner hat’s so richtig gesehen. Gabriel schon. Geißler hatte lange den Kurs gepredigt, den Merkel dann einschlug, diesen moderaten modernistischen.

Aber sei’s drum, Gabriel ist jetzt vor allem ein „Netzwerker“, weshalb dieses auch sogenannte Bündnis der damals jungen Sozialdemokraten gut passte. Nicht links, nicht rechts, aber mit dem Anspruch: „Links neu denken. Politik für die Mehrheit“. So hieß deren Buch, 2008, und das ist bis heute gültig. Politik für die Mehrheit – das wäre was. Das wollte Gabriel immer schaffen. Mit Pragmatismus und Tatkraft, die ihm keiner absprechen wird. Ob im Rat von Goslar am Harz oder als Fraktionschef im niedersächsischen Landtag, dann als Ministerpräsident, damals mit 39 der jüngste der Republik, er wollte immer ändern und verändern. Positiv gesagt: Er ist ideenreich, schon immer gewesen. Und, wenn man sich die Liste der Ideen so anschaut, seiner Zeit manchmal ganz schön voraus. Im Rückblick.

Für die Einführung von Studiengebühren war er, für einen NPD-Verbotsantrag, gemeinsam mit Günther Beckstein von der CSU, gegen das Dosenpfand, für die Wiedereinführung der Vermögensteuer oder Abgabe als Instrument zur Finanzierung von Bildungsausgaben, gemeinsam mit dem Ministerpräsidenten- und Parteikollegen Kurt Beck – viele Jahre her, mehr als ein Jahrzehnt, aber es liest sich aktuell.

Sigmar Gabriel ist überraschend uneitel

Da ist er überraschend uneitel, könnte man meinen. Er erwähnt so etwas selber nicht. Also nicht so demonstrativ. Das macht er dann schon subtiler, lässt es einfließen in den Strom seiner Rede, um vom Odium der Sprunghaftigkeit wegzukommen. Denn das läuft ihm hinterher, nebenher, überholt ihn, konfrontiert ihn. Unberechenbar finden ihn manche, ach was, nicht wenige, und darunter nicht wenige Wichtige. Man frage nur mal Frank-Walter Steinmeier, den Dritten der Troika, in einem nicht diplomatischen Moment. Peer Steinbrück ist da eher unentschieden, zumal er ja auch etwas von Sprunghaftigkeit versteht.

Zwischen den Dreien ist die Zugeneigtheit etwa so groß wie damals unter den Herren Brandt, Wehner und Schmidt, um die einmal als Ur-Troika heranzuziehen, weil Steinbrück doch so gerne Schmidt wäre. Aber vielleicht demnächst der neue Wehner wird? Man könnte allerdings auch sagen: wie die Troika mit Lafontaine, Scharping und Schröder. Und da ist Gabriel nicht der Schröder. Gleichviel, er wäre gerne der gute Lafontaine, derjenige, der die SPD als Partei renovierte, mobilisierte und an die Macht brachte; Gabriel würde sie nur nie verlassen. So lange, wie er Mitglied ist, seit 1977, so sozialdemokratisch, wie er denkt und fühlt. Die Partei ist für einen mit einer schwierigen Kindheit, einem Nazi-Vater und einer schwer für ihn und seine Schwester schuftenden Mutter schon auch Gemütsheimat.

Widerstand hätte ihn mehr gekostet als jetzt seine Kraft zur Selbstbeherrschung.

Der gute Lafontaine: sich danach nicht vom Acker machen, sondern weitersäen – und anerkannt werden. Endlich als der, der er zu sein meint. Kein Springinsfeld. Kein Populist. Ein Stratege. Einer, der Politik kann. Der die Dinge kommen sieht. Der dann auch den verdienten Lohn ernten darf. Das ist Sigmar Gabriel auch, und durchaus nicht nur in seiner Selbstwahrnehmung. Es gibt Menschen fernab der Politik, die das bestätigen.

Zum Beispiel der alte Unternehmer, mit dem er vor Jahren als Ministerpräsident in Kontakt gekommen ist. Der ist von Gabriels guten Gaben, nicht nur den Geistesgaben, zutiefst überzeugt, von seiner Stetigkeit als Freund. Und es gibt noch mehr Menschen, von denen er nichts hat außer Freundschaft. Um die er sich kümmert, treu. Wie um seine an Demenz erkrankte Mutter oder um seine ältere Tochter, ohne groß darüber zu reden, schon gar nicht öffentlich. Es gibt Menschen, die reden gut von ihm, sehr gut.

Keiner bestreitet ihm, das Wesen der Politik verstanden zu haben

Anders als etliche in der Politik. Immer sind es solche Begriffspaare: beliebig und kreativ. Naturtalent und Populist. Launisch und witzig. Offen und unberechenbar. Das sind Pole, und es sind noch nicht einmal alle aufgeführt, auch nicht die eisigsten. Weil er aufbrausend sein kann, hochfahrend, bullig. Nicht alles auf einmal, aber eins davon. Und wer das erlebt hat, der vergisst es nicht. Der trägt es ihm nach. Daneben gibt es die, die mit ihm durch dick und dünn gehen. Sagen wir so: Manch Guter hält’s aus, Rainer Sontowski zum Beispiel, der mal in der niedersächsische Landesvertretung war und dann Abteilungsleiter im Bundespresseamt, jetzt bei ihm im Willy-Brandt-Haus. Oder Matthias Machnig, ganz früher, 1998, in der Kampa, dann im Umweltministerium sein Staatssekretär, heute Minister in Thüringen. Oder ein Freund: Martin Schulz, Präsident des Europaparlaments. Der ist auch ein Freund der klaren Worte und hält ihn mit beiden Beinen am Boden. Und Peter Danckert, der Berliner, der lange für Brandenburg im Bundestag war. Der sagt ihm alles, auch was er nicht hören will.

Aber keiner bestreitet ihm, das Wesen der Politik verstanden zu haben. Da ist er ganz der Lehrer, der Politik auch als Wissenschaft studiert hat: Wie er reden kann, um zu überzeugen. Wie er Zusammenhänge darstellen kann. Seine erste Rede als junger Fraktionschef in Niedersachsen riss die Abgeordneten ebenso zu Beifallsstürmen hin wie seine erste Rede als Parteivorsitzender Jahre später.

Gerhard Schröder hat es als Erster gesehen – und sich gleich zu Anfang mit ihm angelegt, um ihn zu ducken. Was nicht gelang. Gabriel kennt keine Angst. Franz Müntefering hat ihn auch gefördert, und zwar, als keiner mehr so richtig mit ihm rechnete. Da wurde Gabriel Umweltminister und so gut, wie es Vorgänger Jürgen Trittin gerne gewesen wäre. Das war nach einer Lebenskrise, als er aufhören wollte mit der Politik, nachdem er krachend in Niedersachsen verloren hatte.

Seine Aufgabe als verspotteter „Popbeauftragter“ ist auch so eine Geschichte, die ihm lange nachlief. Tatsächlich war er in der Popszene gut bewandert, weil er früher Konzerte organisierte. Peter Maffay wird’s bestätigen. Er sprach mit vielen Helden, er wollte das wirklich gut machen. Oder die Geschichte mit dem Listenplatz: Es ist Wahl, beim vorvergangenen Mal, und seine Niedersachsen wollen ihm nur Platz 24 geben. Das hat ihn wieder gereizt, in jeder Hinsicht, er ist ja reizbar. Gabriel verzichtete bei der Kandidatur auf jede Absicherung. Hopp oder top, rein oder raus, dann allerdings ganz raus aus der Politik. Gabriel gewann.

Doch das ist eben auch – Geschichte. Heute ist er in einer anderen, buchstäblich, Funktion, und er weiß es. Gabriel steht brav an der Seite von Frank-Walter Steinmeier, als der sich wiederwählen lassen will zum Fraktionschef der SPD im Bundestag. Klaglos, ohne Lamento; aber Widerstand hätte ihn noch mehr gekostet als jetzt seine Kraft zur Selbstbeherrschung. Auch das weiß er. Dabei hätte er schon was sagen können. Wenn er gewollt hätte. Oder wenn er, was alle immer vermutet haben, das Amt gewollt hätte.

Er sucht den richtigen Moment. Um dann ein Momentum zu erzeugen.

Objektiv gesehen ist es so: Gabriel hat seinen Wahlkreis überzeugend gewonnen, Steinmeier weniger. Seine Landesliste Niedersachsen hat besser abgeschnitten, die der SPD in Brandenburg weniger. Das ist bis auf Steinmeiers Wahlkreis schwarz geworden. Da hätte er Ansprüche … – stopp, Gabriel lässt nicht einmal solche Gedankenspiele zu. Und sagen wird er dazu erst recht kein Wort.

Er ist stiller als sonst. Weil auch er verloren hat: Da hatte er doch gedacht, mit Peer Steinbrück als Alternative könnte es gelingen, noch mehr zu gewinnen. Und jetzt? Jetzt darf er nicht niedergedrückt wirken, nicht er, der Parteichef. Jetzt darf er sich nicht gehen lassen, auf gar keinen Fall. Denn jetzt ist es wichtig wie nie für die SPD und für ihn. Je nachdem, wie sie sich entscheidet, sie, die Partei.

Er muss ihr Handlungsmöglichkeiten eröffnen, nicht sich. Nicht jetzt. Er muss ein gutes Bild abgeben, damit die Partei im Zweifel, also wenn sie zweifelt und im Urteil schwankt, auf ihn hört und sich auf ihn stützen kann. Er darf deshalb alles das nicht sein, was seine Gegner denken, dass er sei. Er muss viele für sich gewinnen, um etwas für die SPD zu gewinnen. Und dann, aber am Ende, in einer großen Koalition, auch für sich: Ein Amt, das zu ihm passt, in dem er wieder zeigen kann, was noch alles in ihm steckt. So wie damals, als er anfing. Mit Umwelt, Sozialem, Wirtschaft. Dann die Arbeit im Innenausschuss des Landtags und als innenpolitischer Sprecher der Fraktion – wenn da mal nichts für die Zukunft dabei ist.

Ein Fehler von Gabriel – und er ist weg

Im Stillen passiert überhaupt gerade viel für die Zukunft. Bei ihm, das sowieso und von Amts wegen, aber auch bei Hannelore Kraft aus Nordrhein-Westfalen, bei Ralf Stegner aus Schleswig-Holstein, bei Olaf Scholz aus Hamburg. Scholz und Kraft sind verbündet, auch in der Meinung, dass sie es nicht nur auch könnten, was Gabriel kann, sondern wohl besser. Ein Fehler von Gabriel – und dann sind sie da. Und er ist weg.

Steinmeier hat am Abend der Wahl, als alle anderen schon gegangen waren, noch oben im Willy-Brandt-Haus mit Stegner zusammengesessen. Das zeigt: Lauter unterschiedliche Interessen werden allmählich deutlich und müssen austariert werden. Wieder eine große Koalition mit der Union wollen die einen, wenn es der Sache nutzt, dem Mindestlohn, der Solidarrente, einem höheren Spitzensteuersatz. Schwarz-Grün herbeiprovozieren wollen die anderen, um dann nach zwei Jahren, mitten in der Legislaturperiode, mit der linken Mehrheit einen Misstrauensantrag zu stellen und zu gewinnen. Nur Opposition wollen wieder andere, um das nicht der Linken zu überlassen.

Was Gabriel will? Erst einmal den Parteikonvent. Erleben, um zu überleben, so kann man es auch nennen: Er will die Partei reden lassen, wahrscheinlich nicht nur einmal. Sie können durchaus, wenn’s konveniert, noch mal zusammenkommen. Denn da kommt doch noch was – Angela Merkel wird kommen, die Bundeskanzlerin, mit was auch immer. Darüber muss dann wieder geredet werden. Mit ihr, in der SPD.

Er sucht den richtigen Moment. Um dann ein Momentum zu erzeugen, damit die Delegierten ihm folgen. Wenn er redet, dann wissen sie wieder, was sie an ihm haben, das ist immer so. Liebe ist es nicht, eher von ihm zur Partei; was er alles aus ihrer Geschichte weiß, das weiß mancher Historiker nicht. Geliebt hat die SPD sowieso nur Willy Brandt. Bei ihm ist es eine Mischung aus Faszination kleinerer Art, und Achtung.

Merkel, die ihn übrigens etwas anders einschätzt als einige der Vorderen seiner eigenen Partei, was der zu denken geben müsste, wenn sie es wüsste. Die Kanzlerin hat ihn im Blick, immer behalten, politisch und zum Beispiel auch, wie er Kurt Beck, den sehr verletzten, für die Partei zurückgewonnen hat. Sie schätzt seine Verlässlichkeit, ja doch, bei Absprachen, seinen schnellen Verstand und seine Begabung, sich schnell in die Sache einzuarbeiten. Sie kann beurteilen, wie er als Umweltminister war, sie war es ja auch. Seine Chuzpe, die findet sie auch ganz witzig. Kann sie auch, als CDU-Chefin. Sie leidet ja nicht unter ihm. Sie ist doch selber ironisch und frech. Nur selten öffentlich. Da ist sie stiller. Stiller als er. Für gewöhnlich.

Aber es sind gerade keine gewöhnlichen Zeiten.

Erschienen auf der Dritten Seite.

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