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Wer sitzt im kommenden Jahr im Weißen Haus? Joe Biden (l.) fordert US-Präsident Donald Trump heraus.

© Tagesspiegel, Fotos: Jim Watson, Brendan Smialowski / AFP

Tag der Entscheidung in den USA: Deutschland und Europa müssen Amerikas Wählern vertrauen

Ob Joe Biden oder Donald Trump: Wer heute Nacht siegt, ist auch für Deutschland und Europa eine Schicksalsfrage. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Hoffen und Bangen liegen über diesem Tag. Und ein Gefühl der Machtlosigkeit, des Ausgeliefertseins. Amerika wählt. Die Anderen sind Zuschauer.

Dabei ist dies keine Wahl wie jede andere. Sie ist folgenreich, auch für die Deutschen und die Europäer.

Es macht einen großen Unterschied für den Grad internationaler Kooperation und die künftige Welt(un)ordnung, ob Donald Trump für weitere vier Jahre Präsident bleibt. Oder Joe Biden ihn ablöst.

Wahlen in China, Russland, Indien? Das wäre etwas ganz Anderes

Von keiner anderen Entscheidung in keinem anderen Land kann man Vergleichbares sagen, nicht von China, nicht von Russland, nicht von Indien. In den USA kommt 2020 Dreierlei zusammen: Das Volk entscheidet in einer demokratischen Wahl. Es geht um zwei sehr unterschiedliche Wege in die Zukunft. Und das Land ist eine Weltmacht, sodass auch andere die Folgen zu spüren bekommen.

Deshalb richten sich alle Augen auf Amerika. Kann man die Verantwortung für diese globale Weichenstellung in die Hände der Wählerinnen und Wähler dort legen? Niemand hat die Entscheidung freiwillig an sie abgegeben. Deutsche und Europäer haben keinen Einfluss auf den Ausgang, werden jedoch mit den Konsequenzen leben müssen.

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Im Wahljahr konnte man phasenweise den Eindruck gewinnen, die Menschen im Ausland betrachteten die Auseinandersetzung in den USA wie ein Stück Unterhaltung im Theater oder Sportstadion. Sie sprachen darüber, bewerteten Handlung, Inszenierung und Zwischenstand – und lebten ihren Alltag weiter, als werde die US-Wahl daran wenig ändern. Der Gedanke, dass sie Folgen für das eigene Schicksal haben könnte, wurde verdrängt.

Wenn Donald Trump gewinnt: Weitere vier Jahre Erosion internationaler Regeln.

© AFP

Wenn Trump gewinnt: Nochmal vier Jahre Erosion

Stellen wir uns vor, Trump gewinnt: der Mann, der zum Symbol für die Zerrissenheit der westlichen Welt wurde. Nochmal vier Jahre, in denen die USA aus internationalen Vereinbarungen aussteigen wie dem Klimaabkommen, aus Abrüstungsverträgen, dem Atomdeal mit dem Iran und Freihandelsabkommen wie der Transpazifischen Partnerschaft, mit der Barack Obama China zu mehr Fairness im Wettbewerb drängen wollte.

Der Multilateralismus würde weiter erodieren. Die Regeln der Demokratie, des Rechtsstaats, der Gewaltenteilung, der Ethik in den USA würden weiter aufgeweicht. Und die Partner in Europa mit Drohungen unter Druck gesetzt, von Strafzöllen über Sekundärsanktionen bis Truppenabzug. Die Geltung der regelbasierten Ordnung würde weiter eingeschränkt – mit gravierenden Folgen für Deutschland, sein Erfolgsmodell, seinen Wohlstand und seine Sozialsysteme. Denn die finanzieren sich zum Gutteil aus den Erträgen der Exportwirtschaft.

Wenn Biden siegt: Keine Rückkehr zur Normalität

Die Alternative: Joe Biden zieht ins Weiße Haus ein. Da gäbe es zwar keine Rückkehr zu einer gewohnten Normalität, die im Übrigen unter Bill Clinton oder Barack Obama gar nicht so harmonisch war, wie manche sie im Kontrast zu Trump nostalgisch verklären. Viele Meinungsverschiedenheiten würden bleiben.

Auch die Demokraten fordern, Deutschland müsse mehr zur Verteidigung beitragen und seine Energiegeschäfte mit Russland überdenken. Europa solle mehr Verantwortung für die eigene Sicherheit übernehmen und mit den USA Chinas Dominanzansprüchen begegnen. Aber Ton und Arbeitsstil würden kooperativer. Es gäbe ein Bewusstsein für die gemeinsamen Interessen. Biden würde sich abstimmen und nicht einseitig entscheiden.

Wenn Joe Biden gewinnt: Keine Rückkehr zur alten Normalität. Aber ein Gefühl für gemeinsame Interessen - und Bedrohungen.

© AFP

Strategische Autonomie Europas? Ein leeres Wort

Doch: Haben Deutschland und Europa Strategien entwickelt, wie sie auf den einen oder den anderen Ausgang reagieren wollen, um ihre Interessen zu verteidigen? Davon ist wenig zu sehen und zu hören. Wie ja überhaupt kaum öffentlich diskutiert wird, welche Handlungsspielräume sie haben, wie groß ihre Abhängigkeit von den USA ist und was zu tun wäre, damit aus dem Schlagwort „strategische Autonomie“ eine Wirklichkeit wird, mit der Andere rechnen müssen, von den USA bis China.

Abhängigkeiten, das darf man anmerken, sind nicht per se schlecht. Von der weit reichenden Wirtschaftspartnerschaft mit den USA profitiert die deutsche Wirtschaft enorm; bei Handel, Dienstleistungen und Investitionen hat sie eine Tiefe, wie es sie anderswo auf der Erde nicht gibt. Ähnliches gilt für die Kooperation bei Sicherheit, Terrorabwehr und Nato.

Die Wahl bleibt spannend, wegen der vielen Briefwahlstimmen auch in den Tagen nach dem Wahltag. Bis zum 8.11. erscheint Twenty/Twenty, unser Newsletter zur US-Wahl, deshalb täglich. Sie können sich hier kostenlos anmelden.]

Was bleibt? Vertrauen in die US-Wähler. Das ist viel verlangt

Wie die Dinge liegen, bleibt Deutschen und Europäern nichts anderes übrig, als ein bisschen Vertrauen in die Weisheit und das Verantwortungsbewusstsein der Wählerinnen und Wähler in den USA zu haben. Das ist viel verlangt, zumal nach den Erfahrungen mit der Wahl 2016. Und angesichts der Erkenntnis, dass mehr als 40 Prozent der Amerikaner Trump trotz seiner Amtsausübung bis heute unterstützen. Falls er klar verlieren sollte, dann vor allem wegen Corona. Das ist ernüchternd

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Vielleicht hilft als kleiner Trost: Deutschlands Nachbarn geht es nicht viel anders, wenn der ökonomische und politische Koloss in der Mitte Europas wählt. Belgier, Niederländer, Dänen, Polen, Tschechen, Österreicher, Schweizer und die nicht ganz so ohnmächtigen Franzosen werden auch nicht gefragt und bekommen doch zu spüren, wie die Deutschen Energiepolitik, Migration, Verteidigung, den Umgang mit Partnern in der EU und außerhalb Europas gestalten.

Der Demokratische Westen: Es gibt ihn noch

Blicken wir also auf diesen Wahltag in den USA, als hinge unsere Zukunft davon ab. Und verfolgen die Auszählung von Florida, wo der Sieger in 13 der 14 letzten Wahlen am Ende Präsident wurde, über Pennsylvania und die anderen Staaten an den Großen Seen, die 2016 den Ausschlag gaben, und Arizona, das vom republikanischen ins demokratische Lager wechseln könnte, bis an die Pazifikküste.

Wahlen sind das Hochamt der Demokratie. Die Bürger sind der Souverän. Was immer kluge Verfassungsväter und -mütter an „Checks and Balances“ erdacht haben: Die ultimative Kontrolle einer Regierung haben die Bürgerinnen und Bürger. Sie können sie abwählen. Das unterscheidet westliche Demokratien wie die USA und Deutschland vom Rest der Erde.

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