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Gegen die 59-jährige Anwältin Eren Keskin (M.) laufen fast 150 Verfahren.

© Bulent Kilic/AFP

Türkische Menschenrechtlerin Keskin: "Ich kann jeden Moment ins Gefängnis kommen"

Die türkische Menschenrechtlerin Eren Keskin über Haftstrafen ohne Gerichtsbeschluss, mangelnde Meinungsfreiheit und fehlenden Druck durch die EU.

Frau Keskin, vor einem Jahr wurde der deutsch-türkische Journalist Deniz Yücel aus türkischer Haft entlassen. Wie hat sich das innenpolitische Klima seitdem entwickelt?

In Sachen Meinungsfreiheit gibt es keine Fortschritte, im Gegenteil. Viele Menschen sitzen im Gefängnis. Selbst in den 90er Jahren wurde die Meinungsfreiheit nicht so sehr verletzt wie heute, wo die Leute ohne Gerichtsbeschluss ins Gefängnis kommen. Seit der Sache mit Deniz Yücel hat es keine positive Entwicklung gegeben.

Die Regierung in Ankara sagt, sie müsse nach dem Putschversuch von 2016 gegen Staatsfeinde vorgehen – was sagen Sie dazu?
Das wird behauptet, um den Leuten Angst zu machen. Es gibt keine inneren Feinde. Ich bin eine Menschenrechtlerin, ich habe noch nie eine Waffe in der Hand gehabt, ich habe noch nie den bewaffneten Kampf gerechtfertigt. Ich trete für die Demokratisierung der Türkei ein – und trotzdem kann ich jeden Moment ins Gefängnis kommen. Bin ich etwa ein innerer Feind? Wir reden hier von einem Staat, der jeden zum Feind und zum Verräter ausruft, der nicht so denkt wie er.

Welche Prozesse und Gefängnisstrafen drohen Ihnen?

Wegen meiner Unterstützung für die kurdische Zeitung „Özgür Gündem“ wurden 143 Verfahren gegen mich eröffnet, ein Teil davon ist abgeschlossen. Dem Berufungsgericht liegt ein Urteil über zwölfeinhalb Jahre Haft vor, aber da kommt noch mehr. Mir drohen Haftstrafen, die ich in meinem Leben nicht absitzen kann. Das ist sehr stressig. Man wacht jeden Morgen mit der Frage auf, ob eine Haftstrafe rechtskräftig geworden ist. Das kann jeden Moment geschehen. Es wird ohne Gerichtsverhandlung entschieden.

Können Sie die Türkei nicht verlassen?

Ich habe Ausreiseverbot. Es gibt zwar Wege, das Land trotzdem zu verlassen. Aber ich habe von Anfang an gesagt, dass ich nicht gehen werde. Ich glaube, wir können unseren Kampf auch vom Gefängnis aus fortsetzen.

Sie engagieren sich schon länger für die Menschenrechte, als es die AKP-Regierung gibt. Was ist das Problem der Türkei?

Natürlich ist Staatschef Recep Tayyip Erdogan nicht das Grundproblem der Türkei. Ich finde es falsch, nur gegen Erdogan zu opponieren, denn darüber wird die militaristische und autoritäre Struktur der Türkischen Republik vergessen. Diese Republik ist im Geiste der Völkermorde an Armeniern und anderen Christen gegründet und dann mit einer offiziellen Ideologie bemäntelt worden. Diese Ideologie gilt es zu bekämpfen. Erdogan ist als Kritiker dieser Ideologie an die Macht gekommen, aber er hat sich dann damit arrangiert.

Können Kritik aus Europa und Unterstützungsaktionen wie die jüngste Unterschriftenkampagne von Amnesty International etwas in der Türkei bewegen?

Ich kritisiere die Europäische Union. Denn es gibt zwischen der Türkischen Republik und den EU-Staaten in Sachen Meinungsfreiheit etliche Abkommen. Ich glaube nicht, dass hier angemessener demokratischer Druck auf die Türkei gemacht wird. Die Position der internationalen Menschenrechtsorganisationen ist wichtig für uns. Amnesty steht mir seit den 90er Jahren bei – bis heute. Dafür schulde ich ihnen Dank.

Woher nehmen Sie Ihren Mut und Ihre Kraft?

Ich glaube an das, was ich tue. Und wenn du tust, woran du glaubst, wird dir sogar dein Gegner Respekt zollen. Das habe ich oft genug erlebt. Ich bin zum Beispiel noch nie von einem Richter beschimpft worden, der mich verurteilt hat. Sie alle haben die Strafen gegen mich mit Bedauern ausgesprochen.

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