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Nach den Worten von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) steigt die Zahl Pflegebedürftiger in Deutschland unerwartet schnell (Archivbild).

© imago/Future Image/Frederic Kern

Update

Zwei Generationen sind gleichzeitig betroffen: Lauterbach sieht „explosionsartigen“ Anstieg bei Pflegebedürftigen

Das Gesundheitsministerium kann sich den Effekt des plötzlichen Anstiegs der Pflegebedürftigen nicht erklären. Nun soll eine Reform die Finanzierung der Pflege sichern.

Nach den Worten von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) steigt die Zahl Pflegebedürftiger in Deutschland unerwartet schnell.

„Demografisch bedingt wäre 2023 nur mit einem Zuwachs von rund 50.000 Personen zu rechnen gewesen. Doch tatsächlich beträgt das Plus über 360.000“, sagte Lauterbach dem „RedaktionsNetzwerk Deutschland“ und fügte hinzu: „Woran das liegt, verstehen wir noch nicht genau.“ Er spricht von einem „akuten Problem in der Pflegeversicherung“.

Ein Nachholeffekt bei der Beantragung von Pflegegraden im Anschluss an die Corona-Pandemie erklärt nach Einschätzung des Ministers die Zunahme in dieser Größenordnung nicht.

Durch die Erfolge der Medizin ist die Gruppe derjenigen größer geworden, die schon in jungen Jahren pflegebedürftig sind.

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD)

Als Ursache für den „explosionsartigen“ Anstieg geht Lauterbach von einem „Sandwich-Effekt“ aus: „Zu den sehr alten, pflegebedürftigen Menschen kommen die ersten Babyboomer, die nun ebenfalls pflegebedürftig werden“, sagte er. Es gebe also erstmals zwei Generationen, die gleichzeitig auf Pflege angewiesen sind: die Babyboomer und deren Eltern.

Es gebe eine Reihe von Erkrankungen, die man früher nicht lange überlebt hätte. „Durch die Erfolge der Medizin ist die Gruppe derjenigen größer geworden, die schon in jungen Jahren pflegebedürftig sind“, sagte Lauterbach. Mit dem aktuellen Beitragssystem allein sei das Leistungsniveau der Pflege nicht zu erhalten, sagte er.

Finanzierung der Pflege soll reformiert werden

Bis Monatsende werde eine Arbeitsgruppe aus mehreren Ministerien Vorschläge für eine Finanzreform vorlegen. Dabei werde es „wohl kaum zu einer einheitlichen Empfehlung aller Beteiligten kommen“. „Dafür sind die Ansichten der verschiedenen Ministerien beziehungsweise der Koalitionspartner zu unterschiedlich“, sagte Lauterbach. Lösungs­möglichkeiten würden durch die AG neutral und fair nebeneinander­gestellt werden - dies sei dann gute Grundlage für eine große Reform in der nächsten Wahlperiode. „Dann muss sie aber auch kommen.“

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Der Minister regte an, die Sozialhilfe für Pflegebedürftige künftig von der Pflegekasse anstatt von den Sozialämtern auszahlen zu lassen. „Viele Betroffene empfinden es als entwürdigend, am Ende ihres Lebens, in dem sie hart gearbeitet haben, auf das Sozialamt angewiesen zu sein“, sagte er.

Eine sogenannte Hilfe zur Pflege können Menschen beim Sozialamt beantragen, die die Kosten für den notwendigen Betreuungsaufwand nicht aus eigenen Mitteln aufbringen können.

Um künftig eine Finanzierung dieser Leistungen über die Pflegekasse zu ermöglichen, müssten allerdings die bei den Kommunen eingesparten Steuergelder an die Pflegeversicherung fließen, sagte Lauterbach. „Jemand, der sein Leben lang gearbeitet hat und sich im Alter trotzdem die Pflege nicht leisten kann, hat ein Recht auf Unterstützung und ist kein Sozialfall“, sagte der SPD-Politiker.

Defizit in Milliardenhöhe

Laut bisherigen Prognosen aus der Wissenschaft erhöht sich die Zahl der Pflegebedürftigen binnen 15 Jahren von heute rund fünf auf sechs Millionen. Regional dürfte der Anstieg von Pflegebedürftigen sehr unterschiedlich ausfallen, besonders stark aufgrund der Demografie etwa in Bayern und Baden-Württemberg. Zwischen 280.000 und 690.000 Pflegekräfte werden laut Statistischem Bundesamt bis 2049 nach Vorausberechnung vom Februar bundesweit fehlen.

Die Koalition hatte zum vergangenen Juli eine Beitragserhöhung für Kinderlose auf 4 Prozent und für Beitragszahler mit einem Kind auf 3,4 Prozent beschlossen. Die Betriebskrankenkassen schlugen Anfang Mai mit Hochrechnungen Alarm, nach denen für dieses Jahr ein Defizit der Pflegeversicherung von einer Milliarde Euro und für 2025 von 4,4 Milliarden droht.

Die Sozialvorständin der Diakonie Deutschland, Maria Loheide, hatte zum Tag der Pflegenden im Mai gemahnt: „Wenn das Geld der Pflegeversicherung nicht mehr ausreicht, ist die Versorgung der pflegebedürftigen Menschen gefährdet.“ Heute schon ignorierten Krankenkassen, aber auch Kommunen oft wegen Tarifsteigerungen in die Höhe gehende Personalkosten, sagte Loheide der Deutschen Presse-Agentur.

Lohnersatz für Angehörige gefordert

Bayerns CSU-Fraktionschef und Ex-Gesundheitsminister Klaus Holetschek sagte: „Die geplante große Pflegeform in der nächsten Wahlperiode kommt viel zu spät.“ Holetschek forderte eine Lohnersatzleistung wie beim Elterngeld für pflegende Angehörige.

Die Angehörigen gelten seit Langem als „der größte Pflegedienst Deutschlands“. Doch viele Familien seien seelisch, körperlich und finanziell am Ende, mahnte vor wenigen Tagen die Deutsche Stiftung Patientenschutz. „Damit die Bundesregierung unmittelbar helfen kann, muss das Pflegegeld sofort und pauschal um 300 Euro erhöht werden“, forderte Vorstand Eugen Brysch.

Pflegepersonal fehlt

Laut einer Befragung des Evangelischen Verbands für Altenarbeit und Pflege vom Februar müssen vier von fünf Pflegeeinrichtungen ihr Angebot einschränken, weil Personal fehlt. Neun von zehn ambulante Dienste lehnten 2023 Neukunden ab. Die Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg führt Pflegekräfte an der bundesweit ersten Position unter allen Berufsgruppen mit einem Engpass. Knapp 1,7 Millionen Pflegekräfte in der Kranken-, Alten- und Kinderkrankenpflege waren 2023 in regulären Jobs beschäftigt - 10 000 Beschäftigte mehr als im Vorjahr. 82 Prozent aller Pflegekräfte sind Frauen. Von diesen 1,39 Millionen Frauen arbeitet etwas mehr als jede zweite in Teilzeit.

Die Pflege im Heim wird unterdessen immer teurer. Die Zuzahlungen für Pflegebedürftige sind trotz Entlastungszuschlägen zuletzt weiter gestiegen. Zum 1. Januar waren im ersten Jahr im Heim im bundesweiten Schnitt 2576 Euro pro Monat aus eigener Tasche fällig – 165 Euro mehr als Anfang 2023.

Lauterbach hatte bereits bisher deutlich gemacht, dass er die reine Beitragsfinanzierung der Pflegeversicherung vor dem möglichen Ende sieht. Langfristig komme man um Steuermittel hierfür nicht herum, sagte er im April auf der Altenpflegemesse in Essen. (epd/dpa)

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