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Ukrainische Soldaten der Brigade 63 bei einem militärischen Training, bei dem ein Angriff in den Schützengräben simuliert wurde.

© dpa/Zuma Press/Sopa Images/Ashley Chan

Ukraine-Invasion Tag 273: Die vierte Phase des Krieges hat begonnen

Vorwürfe von Ex-Premier Johnson, EU-Parlament verurteilt Russland als staatlichen Unterstützter von Terrorismus. Der Überblick am Abend.

Nach dem Fall von Cherson hat in der Ukraine die vierte Phase des Krieges begonnen. Nach dem Kampf um Kiew, den Höllenkämpfen im Donbass und den erfolgreichen ukrainischen Offensiven in Cherson und Charkiw ordnen sich die Kräfteverhältnisse neu. 

Da die Frontlinie nun einige hundert Kilometer kürzer ist, kann Russland seine verbliebenen Kräfte nun deutlich dichter aufstellen. Schnelle und tiefe Durchbrüche, wie in Charkiw im Spätsommer, werden dadurch unwahrscheinlicher. Angriffe der Ukrainer werden gleichzeitig aufwendiger und wahrscheinlich verlustreicher, weil sie gegen eine größere Anzahl an russischen Soldaten vorgehen müssen. Dazu tragen auch Zehntausende Rekruten bei, die Moskau seit Beginn der Teilmobilisierung an die Front geschickt hat. Ein weiterer Einflussfaktor: Moskaus Truppen errichten an vielen Abschnitten der verbliebenen Front Verteidigungsstellungen. 

Die genannten Punkte würden dafür sprechen, dass die vierte Phase dieses Krieges von einem langsamen und deshalb langwierigen Abnutzungskampf geprägt ist, an dessen Ende es Russland vielleicht tatsächlich schafft, die Front einzufrieren. Das Ziel der Regierung in Kiew, das ganze Land zu befreien, wäre vereitelt.

Zusammen mit der laufenden Zerstörung des ukrainischen Energienetzes, die Zivilisten und die Wirtschaft des Landes brutal trifft, könnte Putin darauf hoffen, dass die Ukraine sich irgendwann auf einen Waffenstillstand einlässt. Ein andauernder Krieg ohne Dynamik schadet der Ukraine mehr als Russland. Und auch die westlichen Partner könnten sich in diesem Fall abwenden. 

Doch dieses Szenario ist nicht zwangsläufig. Schon jetzt zeigen die Ukrainer, dass sie unbedingt weiter das Heft des Handels behalten, den russischen Truppen keine Pause erlauben wollen. Laut Berichten versuchen sie nun auch auf der Ostseite des Dnipro - weit im Süden auf der Kinburn-Halbinsel - anzugreifen. Zudem gab es in den vergangenen sieben Tagen mindestens 19 ukrainische Angriffe auf russische Munitionsdepots und Kommandoposten im Hinterland. Videos zeigen zudem, dass die Ukraine massiv Truppen nahe der Stadt Saporischschja zusammenzieht.

Mancher Beobachter sieht darin die Vorbereitung für einen Vorstoß nach Süden in Richtung Mariupol, um die russischen Truppenverbände in der Ukraine zu teilen und die Nachschubroute in den Südwesten zu unterbrechen. In diesem Fall würde die Lage der russischen Armee in dem Gebiet vor der Krim ähnlich prekär wie die der Truppen auf der Westseite des Flusses in Cherson in den vergangenen Wochen. Der nächste Rückzug Moskaus wäre unausweichlich, die Front weiter dynamisch statt eingefroren und Putins möglicher Plan vereitelt.

Die wichtigsten Nachrichten des Tages

  • Der ehemalige britische Premierminister Boris Johnson hat der Bundesregierung einen schweren Vorwurf gemacht: Deutschland habe anfänglich ein schnelles militärisches Aufgeben der Ukraine einem langen Verteidigungskrieg vorgezogen. Die Bundesregierung dementiert. Mehr dazu erfahren Sie hier.
  • Das EU-Parlament hat Russland als staatlichen Unterstützter von Terrorismus verurteilt. Zudem soll die EU nach dem Willen des Europaparlaments eine Terrorliste für Staaten wie Russland schaffen, um diese strenger zu bestrafen. Mehr dazu hier.
  • Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat die Einrichtung von mehr als 4000 Wärmestuben für die von Kälte und Dunkelheit geplagte Bevölkerung des angegriffenen Landes angekündigt. „Alle grundlegenden Dienstleistungen werden dort bereitgestellt“, sagte er in seiner Videoansprache. Mehr dazu lesen Sie hier.
  • Nach heftigem russischem Raketenbeschuss ist die Region Kiew nach ukrainischen Angaben ohne Stromversorgung. In der Hauptstadt Kiew sei zudem die Wasserversorgung ausgefallen, teilen die Behörden mit. Mehr dazu in unserem Newsblog.
  • Seit Beginn des Krieges haben Russlands Behörden im eigenen Land einen deutlichen Anstieg von Angriffen mit Sprengsätzen und Schusswaffen registriert. Zwischen Januar und Oktober stieg die Zahl um fast 30 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum, berichteten russische Medien.
  • Unter dem Druck westlicher Sanktionen hat in Moskau die Serienproduktion eines neuen Modells des sowjetischen Kultautos Moskwitsch begonnen. An der Wiedereröffnung des Moskwitsch-Werks nahmen laut Interfax unter anderem Vizeregierungschef Denis Manturow und Moskaus Bürgermeister Sergej Sobjanin teil.
  • Großbritannien unterstützt die Ukraine erstmals mit Hubschraubern. Wie der Sender BBC berichtete, soll Kiew insgesamt drei Maschinen vom Typ Sea King bekommen. 
  • Russland verfügt nach Einschätzung des ukrainischen Sicherheitsrates noch über genügend Raketen für drei bis vier ähnlich schwere Angriffe wie am 15. November. Damals waren etwa 100 Raketen abgefeuert worden. 
  • Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba hat an die EU appelliert, angesichts des Ukraine-Krieges nicht „müde“ zu werden. „Ich rufe meine Kollegen in der EU auf“, „alle Zweifel“ und „Müdigkeit“ beiseite zu stellen und „das neunte Sanktionspaket“, das „seit langem überfällig“ sei, „so schnell wie möglich fertigzustellen“, sagte er.
  • Der Bürgermeister von Kiew, Vitali Klitschko, rechnet wegen der Stromausfälle mit einem dramatischen Winter für die etwa drei Millionen Einwohner zählende Hauptstadt der Ukraine. „Das ist der schlimmste Winter seit dem Zweiten Weltkrieg“, sagte er der „Bild“-Zeitung. 
  • Eine Entbindungsklinik in der Region Saporischschja ist ukrainischen Angaben zufolge von russischen Raketen getroffen worden. „Schmerz überflutet unsere Herzen - ein Säugling, der gerade erst auf die Welt gekommen ist, wurde getötet“, schrieb der Militärgouverneur der Region, Olexandr Staruch, auf Telegram.

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