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Hinter Gittern in Berlin-Tegel

© Thilo Rückeis TSP

Warum wir sie vergessen haben: Wie menschlich sind Strafgefangene?

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts über die Löhne von Inhaftierten ruft ein Thema auf, das zum Tabu geworden ist: Wer hinter den Mauern der Gefängnisse lebt – und wie.

Ein Kommentar von Jost Müller-Neuhof

Das Bundesverfassungsgericht hat beanstandet, wie Strafgefangene entlohnt werden. Das überrascht niemanden. Stundenlöhne irgendwo zwischen einem und drei Euro sind – nun ja, was? Ein Symbol des guten Willens, dass der Staat seine Sträflinge überhaupt bezahlt? Sollen sie also dankbar sein, dass sie überhaupt etwas kriegen?

Das vergessene Stichwort heißt Resozialisierung. Der schlichte Gedanke ist, dass jemand, der aus der Gesellschaft herausfällt, irgendwann wieder in sie aufgenommen werden sollte. Wie man dazu steht, ist eine Frage des Menschenbilds. Eine verbreitete Formel lautet: selbst schuld. Räuber, Gewalttäter, Drogendealer und sonstiges Gesindel – sie haben es sich selbst zuzuschreiben, was aus ihrem Leben wird.

Straftäter und Opfer sollten nicht gegeneinander ausgespielt werden. Der Hilfe bedürfen die einen wie die anderen. 

Jost Müller-Neuhof

In den vergangenen Jahren und Jahrzehnten hat sich diese Sichtweise vermutlich stärker verbreitet, als an der gesellschaftlichen Oberfläche wahrnehmbar ist. Ein Grund dafür dürfte die in dieser Zeit dominierende kriminalpolitische Maxime sein: der Opferschutz. Während in den siebziger und achtziger Jahren Straftäter und die Gründe, warum sie wurden, was sie sind, die Diskussionen beherrschten, erkannte man im Anschluss, dass diese Perspektive die Opfer verdrängt.

Eine Neubewertung war also nötig. Seitdem wurde eine Vielzahl an Opferrechts- und Opferschutzgesetzen erlassen. Die Stellung des Opfers im Strafprozess wurde massiv gestärkt. Das mag alles richtig, angebracht, teils überfällig gewesen sein; es führte und führt aber auch dazu, dass die Straftäter – und Straftäterinnen – aus dem Blick gerieten. Das beste Beispiel: Mitunter sind die Gefangenenlöhne gerade deshalb so niedrig, weil mit dem erarbeiteten Geld die Opfer entschädigt werden sollen.

Straftäter und Opfer aber sollten nicht gegeneinander ausgespielt werden. Der Hilfe bedürfen die einen wie die anderen. Die Sensibilität für Opfersein, Diskriminierung und gesellschaftliche Exklusion ist enorm gewachsen. Nur bei der deutschen Gefangenenpopulation ist selten die Rede davon. Ein Fachthema für Justizministerkonferenzen, eine Last für die Haushalte der Länder. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ruft in Erinnerung, dass es um Menschen geht, die Beachtung verdienen – auch nach der Zeit ihres Urteils.

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