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Thekla Wolle und Max Marcuse vor dem Stadtschloss, etwa 1931.

© Susanne Krause-Hinrichs

Erinnerung an Thekla Wolle: Sie wollte bei ihren Lieben bleiben

Susanne Krause-Hinrichs, die Geschäftsführerin der F.C. Flick-Stiftung, erinnert zum Holocaust-Gedenktag an ihre Urgroßmutter Thekla Wolle, die deportiert und ermordet wurde.

Ein Gastbeitrag von Susanne Krause-Hinrichs

Johannes Eberhardt Potsdam, Alter Markt 5, steht auf der Rückseite des Fotos. Er muss ein Fotogeschäft dort gehabt haben, wo heute – fast hundert Jahre später – wieder Läden entstehen, genau gegenüber des Fortunaportals. Auf der Fotografie sieht man, etwas schüchtern lächelnd im Hintergrund, meine Urgroßmutter Thekla Wolle vor dem Potsdamer Schloss.

Sie trägt weiße Handschuhe und einen eleganten Mantel, sie hatte sich wohl für den Ausflug schick gemacht. Ein paar Schritte vor ihr steht Max Marcuse, ein Cousin ihres früh verstorbenen Mannes Gustav Wolle.

Sie ging nach Tel Aviv – und kam wieder zurück

Es muss in den ganz frühen 1930er-Jahren gewesen sein, denn 1933 wanderte Max Marcuse nach Palästina aus und kam nie wieder zurück. Er war ein bedeutender Publizist und Arzt und etablierte in Deutschland einen neuen Forschungszweig, die Sexualwissenschaft. Er setzte sich aufklärerisch für den Schutz von Frauen in der Mutterschaft und in der Ehe ein. Gesellschaftlich aktiv wie er war, zog er die richtigen Schlüsse und bewahrte sich und seine Familie vor der Vernichtung. Dem neuen Land blieb er trotzdem ein Leben lang fremd, seine wissenschaftliche Karriere konnte er nicht fortführen, er starb 1963.

Meine Urgroßmutter war wohl – so berichtet es die Familienchronik – in Max Marcuse verliebt. Sie folgte ihm zunächst und fuhr 1936 nach Tel Aviv in das Mandatsgebiet, das die Engländer damals Palästina nannten. Sie muss einen Kulturschock erlitten haben in dem heißen und nach europäischen Maßstäben unterentwickelten Land. „In der Wildnis könne man es nicht aushalten“, so schrieb sie jedenfalls und sie wolle doch „bei ihren Lieben bleiben“. Ihre Kinder waren doch in Deutschland und sie war gerade auch mit der Geburt meiner Mutter zum ersten Mal Großmutter geworden.

Im Viehwagen deportiert, bei Tallin erschossen

So kam sie in das Land zurück, in dem nördlich von Berlin gerade das Konzentrationslager Sachsenhausen errichtet worden war. Die Entrechtung der Juden war zu dieser Zeit schon weit fortgeschritten, nach den Gesetzen „zum Schutz des deutschen Blutes“ war die Liebe und Ehe mit Juden schon strafbar und mit Zuchthaus bedroht. Thekla konnte sich nicht vorstellen, dass man ihr etwas antun würde, sie hatte doch ihre Steuern bezahlt.

Am 24. September 1942 wurde Thekla zunächst in das Sammellager in der Levetzowstraße in Moabit gebracht, wo sie mit über tausend Männern, Frauen und Kindern in dem, was mal eine Synagoge gewesen war, zunächst eingepfercht und dann in einen Viehwagen nach Riga verladen wurde. Sie war damals 63 Jahre alt. Über Riga fand der Transport nach fünf Tagen in Raasiku in der Nähe des heutigen Tallins ein Ende. Dort wurde sie mit über 1500 Menschen, die sich zunächst ausziehen und ihre Wertsachen ablegen mussten, in eine Grube geschossen.

Am Alten Markt in Potsdam – 82 Jahre später – demonstrieren 10.000 Menschen gegen rechtsextremes Gedankengut und neue Deportationspläne, die zuvor in einer Villa im Norden der brandenburgischen Landeshauptstadt von Geschäftsleuten und Politikern offen geäußert und propagiert wurden. Immerhin.

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