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Leon Goretzka (l.) und Joshua Kimmich (r.) werden in Zukunft das Kraftzentrum des deutschen Teams bilden. Das konnten sie bei der EM aus unterschiedlichen Gründen noch nicht.

© dpa

Die deutsche Nationalmannschaft nach dem EM-Aus: Die Gewinner unter den Verlierern

Für die Nationalmannschaft ist die EM mit einer großen Enttäuschung zu Ende gegangen. Aber auch unter den Verlierern gibt es Gewinner, wenn auch wenige.

Enttäuschung und Niedergeschlagenheit allüberall. Die EM ist für die deutsche Fußball-Nationalmannschaft schon nach dem Achtelfinale zu Ende. Eine große Ungerechtigkeit ist das ganz sicher nicht „Am Ende haben wir nur eins von vier Spielen gewonnen und fahren dann irgendwie auch verdient nach Hause“, hat Mats Hummels nach dem 0:2 gegen England auf seinem Instagram-Account geschrieben. Aber auch unter all den Verlierern im deutschen Team gibt es wenigstens ein paar Gewinner.

 

Kimmich/Goretzka: Irgendwann zu Beginn der sechziger Jahre trafen zwei junge Musiker aus Liverpool die Vereinbarung, dass es sie fortan nur noch als Duo geben würde, zumindest wenn sie sich als Komponisten betätigten. Aus John Lennon und Paul McCartney wurde auf diese Weise Lennon/McCartney.

So ähnlich wie bei den beiden Masterminds der Beatles ist es bei der EM auch mit Joshua Kimmich und Leon Goretzka verlaufen. Die Ereignisse während des Turniers haben dazu geführt, dass beide künftig nur noch als Kimmich/Goretzka zu haben sein werden. Und zwar im zentralen Mittelfeld.

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Bei der EM war das aus diversen Gründen noch nicht der Fall. Zum einen stand Goretzka nach seinem Muskelfaserriss erst im letzten Vorrundenspiel gegen Ungarn für einen Startelfeinsatz zur Verfügung; zum anderen musste Kimmich sich als rechter Verteidiger für das Gemeinwohl opfern. Natürlich machte er das sehr gut (Portugal) bis ordentlich (alle anderen Spiele), und trotzdem hat sich im Land eine Große Koalition aus Laien und Experten formiert, die sich für seine umgehende Versetzung ins defensive Mittelfeld eingesetzt hat.

Unabhängig davon, ob Toni Kroos und/oder Ilkay Gündogan ihre Karriere in der Nationalmannschaft fortsetzen oder nicht: So wird es kommen. Dafür steht schon Hansi Flick, der neue Bundestrainer, mit seinem guten Namen. Wer hat unter ihm bei den Bayern das zentrale Mittelfeld besetzt? Eben. „Beide sind in der Lage, diese Mannschaft in den nächsten Jahren zu führen und ihr Halt zu geben.“ Hat nicht der neue Bundestrainer Flick gesagt. Sondern der alte Joachim Löw. Recht hat er trotzdem.

Erfrischend anders. Robin Gosens zählte bei der EM zu den positiven Erscheinungen im deutschen Team.
Erfrischend anders. Robin Gosens zählte bei der EM zu den positiven Erscheinungen im deutschen Team.

© AFP

Robin Gosens: Bei der Europameisterschaft hat Robin Gosens aus Elten am Niederrhein viele neue Erfahrungen gemacht. Er hat zum Beispiel gemerkt, wie es ist, plötzlich prominent zu sein. „Ich war schon ein bisschen geflasht von dieser unfassbaren Resonanz“, hat er erzählt.

Das Publikum war eben auch ein bisschen geflasht von dem unfassbar guten Auftritt, den Gosens gegen Portugal (ein Tor, zwei Assists) hingelegt hatte. Das erklärt auch manche mediale Übertreibung. Aber dass der Spätberufene sich plötzlich in der Rolle des Heilands wiederfand, hatte eben nicht allein sportliche Gründe.

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Gosens hat sich als echter Typ in einem manchmal aseptischen Umfeld herausgestellt. Das hängt natürlich auch mit seiner Sozialisation zusammen. Während seine Kollegen aus der Nationalmannschaft in den Nachwuchsleistungszentren – frei nach Mehmet Scholl – gelernt haben, verschiedene Systeme vorwärts und rückwärts zu pupsen, hat Gosens mit 18 noch in seinem Dorfverein gekickt und ist am Abend vor einem Spiel schön mit seinen Kumpels auf die Rolle gegangen.

Einen Teil dieser Unbeschwertheit hat er sich als Fußballer immer noch bewahrt, und gerade das hat der Nationalmannschaft bei der EM zumindest punktuell sehr gutgetan. Gosens hat natürlich auch von der Umstellung auf Dreier-/Fünferkette profitiert, in der sein Offensivdrang stärker zur Geltung kommt. Für die neue Ära konnte das durchaus ein Problem werden. Hansi Flick gilt eher als Anhänger der Viererkette.

Herr des Balles. Kai Havertz könnte bei der EM den Sprung vom Talent zum Stammspieler geschafft haben.
Herr des Balles. Kai Havertz könnte bei der EM den Sprung vom Talent zum Stammspieler geschafft haben.

© AFP

Kai Havertz: Im Unterschied zu vielen seiner Kollegen aus der Nationalmannschaft wird Kai Havertz in einigen Jahren mit feuchten Augen an den Sommer 2021 zurückdenken. Zu übergroßen Teilen liegt das natürlich an seinem Siegtor im Finale der Champions League; zu einem kleinen Teil aber auch an der EM.

Das Turnier könnte in seinem Lebenslauf den Übergang vom Talent zum Stammspieler markieren, der er unter Löw trotz seiner Begabung im Übermaß nie war. Bei der Europameisterschaft stand er in allen Spielen in der Startelf, er war mit zwei Treffern der beste Torschütze und ist auch sonst vor allem positiv aufgefallen. Auch im Achtelfinale gegen England, in dem er bei allen guten Offensivaktionen seine feinen Füße im Spiel hatte: bei den Chancen von Timo Werner und Thomas Müller als Vorbereiter und als Vollstrecker bei seinem Schuss von der Strafraumgrenze, den Jordan Pickford über die Latte lenkte.

Siegertyp. Ridle Baku (mit Pokal) ist einer der Gewinner der EM. Obwohl er gar nicht dabei war. Oder gerade deswegen.
Siegertyp. Ridle Baku (mit Pokal) ist einer der Gewinner der EM. Obwohl er gar nicht dabei war. Oder gerade deswegen.

© imago images/Sven Simon

Ridle Baku: Täuscht der Eindruck? Oder ist es wirklich so, dass es noch nie so viele Gurus und Ex-Gurus gegeben, die ihren Senf zu den Auftritten der Nationalmannschaft gegeben haben wie bei dieser EM? Ballack, Effenberg, Matthäus, Babbel, Ziege, Helmer und so weiter und so fort. Bei Lothar Matthäus kann man ja gar nicht mehr nachhalten, für wen er alles als Experte unterwegs ist. Was in seinem Fall aber sehr sympathisch ist: Er nutzt seine medialen Möglichkeiten nicht, um billige Anti-Löw-Reflexe auszuleben. Geht auch gar nicht. Weil Matthäus über keinerlei Anti-Löw-Reflexe verfügt.

Man schätzt sich. Das heißt natürlich nicht, dass man immer einer Meinung sein muss. Matthäus hat zum Beispiel gesagt, dass es ein Fehler von Löw gewesen sei, Ridle Baku vom VfL Wolfsburg nicht in seinen EM-Kader zu berufen. Er hat das – ganz wichtig – vor der EM gesagt. Und Recht behalten. Denn Joshua Kimmich hat natürlich auch deshalb rechts verteidigen müssen, weil es in Löws Kader keinen Ridle Baku gab.

Der Wolfsburger musste stattdessen in diesem Sommer für die U 21 ran und hat erheblich zum Gewinn des EM-Titels beigetragen. Ein A-Länderspiel hat er bereits bestritten. Schon in Kürze dürften viele weitere folgen. Ein Nachteil sollte es jedenfalls nicht sein, dass Hansi Flick Ridle Baku vor einem Jahr von Mainz 05 zu den Bayern holen wollte.

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