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Kant-Ausstellung in der Bundeskunsthalle.

© dpa/Federico Gambarini

„Unverlierbare“ Menschenwürde: Mit Kant über Kant hinaus

Von den zentralen Einsichten des Königsberger Aufklärers führt ein direkter Weg zu Artikel 1 des Grundgesetzes, so der Kant-Experte Marcus Willaschek.

Herr Willaschek, Artikel 1, Paragraph 1 des Grundgesetzes lautet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Sie ist aber auch schwer definierbar. Woher kommt der Begriff ,Menschenwürde’?
Der Begriff hat eine lange Vorgeschichte, die bis in die Antike zurückreicht. Schon der Renaissancephilosoph Giovanni Pico della Mirandola hat unter Rückgriff auf antike Vorbilder davon gesprochen, dass der Mensch eine Würde hat, die auf seinem freien Willen gründet. Aber erst Immanuel Kant …

 … dessen 300. Geburtstag vor wenigen Wochen gefeiert wurde …
… hat die Würde des Menschen als einen Wert definiert, der durch keinen Preis aufgewogen werden kann, weil sein Träger – also jeder einzelne Mensch – kein austauschbares Mittel, sondern ein unersetzlicher Selbstzweck ist.

Kant-Experte Marcus Willaschek, Autor von „Kant. Die Revolution des Denkens“ (2023).

© Anna Weise

Das heißt?
Kant zufolge beruht die Würde des Menschen auf seiner Autonomie, auf der Fähigkeit, sich selbst ein Gesetz zu geben – das ihm nicht etwa von der Natur oder von Gott vorgegeben wird. Dieser freie Wille, der allen Menschen eigen ist, ist die Quelle und das Maß aller anderen Werte und hat deshalb selbst nicht nur einen relativen Wert – der sich in einem Preis ausdrücken ließe – , sondern einen absoluten Wert, eine ,Würde‘. Von dieser kantischen Einsicht in die Würde und Autonomie des Menschen führt ein direkter Weg zum Artikel 1 des Grundgesetzes.

Der zweite Teil des Artikels 1 besagt, diese Würde sei „unantastbar“. Im herkömmlichen Sprachgebrauch ist etwas „unbezahlbar“ oder „unsichtbar“, wenn es nicht bezahlt oder gesehen werden kann. Die Menschenwürde dagegen kann sehr wohl angetastet, ja mit Füßen getreten werden. Müsste es nicht korrekter heißen: Die Würde eines jeden Menschen darf niemals angetastet werden?
Es stimmt, dass die Menschenwürde in der Realität an vielen Orten verletzt wird und dass sehr viele Menschen unter ,menschenunwürdigen‘ Bedingungen leben müssen. Für Kant – und genauso für das Grundgesetz – ist die Würde des Menschen keine faktisch-empirische, sondern eine normative Eigenschaft, ein moralischer Status, der, so drückt Kant es aus, „unverlierbar“ ist. Dieser Status besteht darin, dass man einen Menschen als ein freies, vernunftbestimmtes Wesen respektieren soll. Jede Person hat ein Recht darauf hat, so behandelt zu werden, dass sie dieser Behandlung vernünftigerweise zustimmen kann. Dass dieses Recht „unverlierbar“ ist, heißt natürlich nicht, dass in der Realität überall danach gehandelt würde.  

Wenn Kant die Menschenwürde damit begründet, dass Menschen, anders als Tiere, „vernunftbegabt“ seien und einen autonomen Willen haben, trifft das dann auf alle Menschen zu – auch auf solche, die seiner Meinung nach weniger ,vernünftig‘ waren als der weiße europäische Mann, der ihm vor allem vorschwebte?
In der Tat gibt es herabwürdigende Äußerungen von Kant gegenüber Frauen und Menschen anderer Hautfarbe. Kant blieb in dieser Hinsicht Vorurteilen seiner Zeit verhaftet, obwohl diese von anderen bereits kritisiert wurden. Das lässt sich nicht beschönigen. Hier müssen wir heute mit Kant über Kant hinausgehen und mit dem Grundgesetz betonen, dass die Menschenwürde allen Menschen nicht qua Vernunft, sondern qua biologischem Menschsein zukommt. Im Übrigen war Kant, zumindest gegen Ende seines Lebens, ein scharfer Kritiker der Sklaverei und des Kolonialismus. Es ist meines Erachtens jedoch eine offene Frage, wie Kants Ethik mit ihrer Betonung von Vernunft und Autonomie die Menschenwürde von Menschen begründen kann, die über diese Fähigkeiten aufgrund schwerster geistiger Behinderung nicht verfügen. Für das Grundgesetz stellt sich diese Frage nicht, es ist selbstverständlich, dass die Menschenwürde als unverlierbares Recht auch für sie gilt.

Was würde Kant sagen, wenn er eine Rede zum 75-jährigen Geburtstag des Grundgesetzes halten müsste?
Er würde uns zu unserer Verfassung beglückwünschen! Sie verwirklicht viele seiner zentralen politischen Ziele wie Demokratie und Rechtstaatlichkeit, die zur Zeit Kants in Deutschland noch unerreichbar waren. 

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