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Rock gegen Lukaschenko. Dmitri Halavach, Andrei Jaremtschyk und Yauhen Burlo (von links) in einem Videostill.

© privat

„Wir sind kein Pöbel“: Langjährige Haftstrafen für die belarussische Tor Band

Drei Jahre nach den niedergeschlagenen Protesten gegen die gefälschten Präsidentschaftswahlen rechnet das Regime von Aleksandr Lukaschenko mit dem musikalischen Gewissen der Rebellion ab.

Von Ardy Beld

Seit 1994 wird Belarus von Aleksandr Lukaschenko mit harter Hand regiert. Nach den gefälschten Ergebnissen der Präsidentschaftswahlen im Jahr 2020 gingen Hunderttausende monatelang auf die Straße - vergeblich. Nun hat das Regime auch mit dem musikalischen Gewissen der Proteste abgerechnet: einem dreiköpfigen Kollektiv namens Tor Band.

Hinter verschlossenen Türen brauchte die belarussische Justiz mehr als anderthalb Monate, um am 31. Oktober ihr Urteil zu verkünden. Frontmann Dmitri Halavach, Sänger und Gitarrist der Band, wird zu neun Jahren, Yauhen Burlo, der Schlagzeuger, zu acht Jahren, und Andrei Jaremtschyk, der Bassist, zu sieben Jahren und sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Alle drei müssen außerdem eine Geldstrafe von 100 Mindestmonatslöhnen zahlen.

Schon fast ein Jahr waren die drei in der JVA Nummer 3 der Stadt Homel inhaftiert. Yauhen kann sich nur noch auf Krücken fortbewegen. Die meiste Zeit verbrachte er auf der Krankenstation des Gefängnisses. Bei dem 32-jährigen Tontechniker wurde außerdem eine onkologische Erkrankung diagnostiziert. Pakete mit Lebensmitteln und Medikamenten, die Volontäre im Auftrag der Menschenrechtsorganisation „Vjasna“ (Frühling) ins Gefängnis brachten, wurden nicht angenommen.

Russisches und Belarussisches

Die Tor Band singt sowohl Russisch als auch Belarussisch. Die Songs „Shive“ - für „Shive Belarus“ (Es lebe Belarus)  - und „My Ne Narodets“ (Wir sind kein Pöbel), inspiriert durch eine Aussage von Lukaschenko über die Bevölkerung, wurden zum festen Bestandteil der Proteste im heißen Sommer 2020.

Der Schwerpunkt liegt auf Gitarrenrock, die Musik umfasst  aber auch akustische Balladen, Rap und Popsongs. Regelrecht stadiontauglich ist das russischsprachige „Oechodi“ (Geh fort). In den ersten Tagen der Proteste sangen sogar die allerjüngsten Belarussen: „Geh fort! In Ruhe, Frieden und Gelassenheit / Geh fort! Wir werden Menschen finden, die unserer würdig sind / Geh fort! Dies ist die Zeit der Tapferen, nicht der Feiglinge / Geh fort! Es ist der Wille der Belarussen“.

Auch „Batka“ (Vater) – so wird Lukaschenko gerne von den staatlichen Medien genannt - spricht eine deutliche Sprache: „Ich werde niemals denjenigen Vater nennen / der seine Hunde losgelassen hat / auf meine Mutter und meine kleine Schwestern / auf meine treuen Brüder / denjenigen, der als Feind betrachtet / den besten Teil meines Volkes / der Waffen gegen Blumen einsetzte / wird niemals mein Vater sein“.

Gegen die Depression

Die drei Musiker stammen aus Ragatschow, einer Provinzstadt am Dnjepr im Osten. Als Belarus noch eine Sowjetrepublik war, galt Ragatschow mit seinen 32.000 Einwohnern als wohlhabend. Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurden die meisten Unternehmen geschlossen. Junge Leute zogen in größere Städte wie Homel, Mahiljov, Minsk oder in eine der russischen Metropolen.

Ein guter Bekannter der Band sagt: „Das moderne Ragatschow ist ein deprimierender und hoffnungsloser Ort. Ich glaube, das hat die Jungs auf die Idee gebracht, dass sich etwas ändern muss. Ich erinnere mich, wie sie noch vor den Massenprotesten von der Bühne aus darüber sprachen. Sie erhielten stürmischen Beifall. Ihre einfachen Ideen trafen den Nerv aller Belarussen.“

Dmitri, der Sänger, verdiente sein Geld mit Fotografieren und dem Filmen von Hochzeiten. Zusammen mit seiner Frau Yulia, die zugleich als Psychologin im Kindergarten arbeitete, gründete er das erste Fotostudio in Rahachow. Yauhen, der Schlagzeuger, arbeitete bis zu seiner Entlassung im örtlichen Kulturzentrum als Tontechniker.

Auftritte im Geheimen

Nach seiner Entlassung konnten sie niemanden mit ebenbürtigen Fähigkeiten finden. Andrei kam 2020 dazu. Er ersetzte den vorherigen Bassisten, dem alles zu riskant wurde. Aus Witebsk stammend, arbeitete er als Geschichtslehrer an einer Sekundarschule.

Obwohl sie von den staatlichen Medien ohnehin ignoriert wurden, brachen für die Band nach den gefälschten Wahlen 2020 doppelt schwierige Zeiten an. Nur Auftritte im Geheimen waren noch möglich. Dmitri ließ sich nicht entmutigen: „Manche Leute sind pessimistisch. Die sagen mir, alle hätten Angst. Aber dann sage ich: Wir stehen trotzdem hier und reden. Die Konzerte, die wir jetzt geben, sind für etwa 30 Leute. Das sind Ereignisse, die das Publikum nie vergisst.“

Nach der endgültigen Niederschlagung der Straßenproteste begann sich die Schlinge um die Opposition in Belarus zuzuziehen. Der Justiz hatte freie Hand, um gegen die verbliebenen Andersdenkenden vorzugehen. Die letzten Menschenrechtsorganisationen und unabhängigen Medien wurden im Lauf des Jahres 2022 verboten. Hunderte von Journalisten, Aktivisten, aber auch ganz normale Bürger verschwanden hinter Gittern.

Auf der Anklagebank. Dmitri Halavach (l.), Andrei Jaremtschyk und Yauhen Burlo (r.).   

© privat

Selbst in Russland wurden Belarussen aufgespürt, die die Proteste unterstützt hätten. Der Kickbox-Champion Alexey Kudin floh nach Moskau, nachdem er bei einer Demonstration Polizisten geschubst hatte. Er wurde in der russischen Hauptstadt verhaftet und zurückgeschickt. In Belarus verbrachte er zwei Jahre in einem Lager.

Yana Pinchuk wurde in St. Petersburg verhaftet und ausgeliefert, weil sie aus Russland an einem Chat über die Proteste teilgenommen hätte. In ihrem Heimatland wurde sie zu 12 Jahren Haft verurteilt. Die 26-Jährige  ist unter menschunwürdigen Bedingungen in der JVA Nummer 1 in Minsk untergebracht.

Ende Oktober 2022 hielt Lukaschenkos Repressionsapparat Einzug in der Provinz. Mit großem Tamtam wurden die drei Musiker von Spezialeinheiten der Polizei verhaftet. Bei einer Hausdurchsuchung wurde die Gitarre von Frontmann Dmitri als Beweismittel beschlagnahmt. Alles wurde auf den Kopf gestellt. Die Musiker wurden wegen „Mitgliedschaft in einer extremistischen Gruppierung“ und „Beleidigung von Machthaber Lukaschenko‘“ angeklagt. Außerdem wurde ihnen vorgeworfen, mit ihren Liedern „sozialen Hass“ zu schüren.

Absurde Vorwürfe

Einem regionalen Menschenrechtsaktivisten gelang es, einige Gerichtsdokumente zum Fall in die Hände zu bekommen. So bezichtigte ein Richter im Dezember 2022 Dmitri einer Ordnungswidrigkeit: „Der Angeklagte hat unter Verwendung einer Gitarre samt Koffer und Trageriemen das Audiomaterial ,Rodnaja Zjamlja‘ produziert und aufbewahrt, um es innerhalb der extremistischen Formation Tor Band zu verbreiten, wohlwissend, dass das Lied bereits der nationalen Liste für extremistisches Material hinzugefügt worden war.“

„Es lebe Belarus“. Band Tor live und Openair.

© privat

Ein Vergehen von Yauhen sah die Justiz in seinem Auftritt in dem Video „Shive“: „Zusammen mit anderen Musikern ließ sich der Angeklagte auf einer Wiese filmen, wobei er Trommeln, hölzerne Trommelstöcke, Metallständer und Becken benutzte.“ Auch diese Aufnahme wurde als extremistisch bezeichnet.

Für den Videodreh zu „My ne narodets“ wurden Fans aus dem ganzen Land aufgerufen, den Refrain vor Kameras mitzusingen. Reihenweise trafen die Autos an der verabredeten Stelle am Dnjepr ein. Am Ende gaben aber nur die Mutigsten die Erlaubnis, das Material zu verwenden. Und das nicht ohne Grund. Nach der Verhaftung der Musiker im Jahr 2022 wurden alle im Video vorkommenden Personen von der Polizei aufgesucht und mehrere Gerichtsverfahren eingeleitet.

Während der Untersuchungshaft der Bandmitglieder wurde das über eine Million Mal aufgerufene „My ne narodets“ wie alle anderen Videos aus dem offiziellen YouTube-Kanal der Band entfernt. Für die Justiz in Belarus war es offensichtlich ein Kinderspiel, die Gefangenen dazu zu bringen, die Zugangsdaten zu Mobiltelefon, sozialen Medien und YouTube herauszugeben.

Ich werde niemals denjenigen Vater nennen / der seine Hunde losgelassen hat / auf meine Mutter und meine kleine Schwestern

Auf Machthaber Aleksandr Lukaschenko gemünzter Text des Liedes „Batka“ (Vater)

Dem Leiter der Pressestelle von YouTube/Google zufolge hat die Plattform selbst nicht eingegriffen. Allerdings wurde Ende März 2023 vom offiziellen Kanal aus ein Antrag auf Entfernung aller Tor Band-Videos von anderen Kanälen gestellt. YouTube kam dem nach und gab als Grund eine Urheberrechtsverletzung an. Jedes neu eingestellte Musikvideo der Band wird seither sofort entfernt.

Yuri Stylski, eine belarussische Punklegende,  spielte mehrmals mit der Band zusammen. Er war schon früher wegen eines drohenden Prozesses ins benachbarte Polen geflohen. In seiner Heimatstadt Brest gehörte er zu den ersten, die im August 2020 verhaftet wurden. Eine Menschenmenge forderte damals vor der Polizeiwache die Freilassung des berühmten Musikers.

Stylski wurde nach Hause geschickt, musste aber ein Protokoll unterschreiben, in dem er versprach, „nie wieder zu protestieren“. Er gab daraufhin heimlich Konzerte und nahm das Lied „Busel“ (Storch) auf. Darin erzählt er die Geschichte eines Zusammenstoßes zwischen dem majestätischen Vogel und dem Präsidentenhubschrauber über Minsk. Lukaschenko stürzt zu Tode, und der Storch wird zum Nationalhelden.

„In einem Land, in dem die Menschen keine Zeit für gerechte Gesetze haben, ist dies die brutale Realität“, sagt Stylski. „Von Menschenrechten zu sprechen, wird mit einem Verbrechen gleichgesetzt. Menschen, die über Redefreiheit und Demokratie singen, werden zu exorbitanten Strafen verurteilt als wären sie Mörder. Die Mitglieder der Tor Band sind Helden unserer Zeit. Und jetzt verrotten diese jungen Menschen in Kellern, nur weil sie mitten in Europa den Mund aufgemacht haben.“

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