zum Hauptinhalt
Mahnmal Gleis 17, Berlin-Grunewald.

© imago images/Stefan Zeitz

Neues Buch über Gertrud Kolmar: „Hier endet jegliches Verstehen, jede Vorstellungskraft“

Begehungen und Begegnungen: Eine Biografie erinnert an die jüdische Lyrikerin Gertrud Kolmar, die in Berlin lebte und in Auschwitz ermordet wurde.

Von Markus Hesselmann

Im Winter 1940 kehrt Gertrud Chodziesner auf einem Spaziergang an den Ort ihrer Kindheit zurück. Das Haus in der Ahornallee in Westend, in dem sie aufgewachsen war, ist nun eine Polizeistation. Soll sie, deren Familie zu dem Zeitpunkt bereits von den Nazis enteignet und die gezwungen worden war, mit ihrem Vater Ludwig Chodziesner in eine „Judenwohnung“ im Bayerischen Viertel zu ziehen, es wagen, hineinzugehen?

Was sich nun anbahnt, beschreibt Biografin Friederike Heimann als eine „kleine, unter normalen Umständen harmlos erscheinende Rückkehrszene, die jedoch in dieser Zeit sich verschärfender Verfolgung eher einer unwirklichen Traumszene gleicht“.

Denn Gertrud Kolmar, so der Name, unter dem die Dichterin schreibt, tritt tatsächlich ein, lässt sich herumführen, wird vom Hausmeister höflich behandelt, findet heraus, dass es „zwischen diesen Amtsstuben aber und unseren Zimmern“ nichts Vergleichbares mehr gebe und verzichtet darauf, auch das Obergeschoss zu besichtigen.

Die neue Biografie über die Berliner Dichterin Gertrud Kolmar ist im Jüdischen Verlag bei Suhrkamp erschienen.
Die neue Biografie über die Berliner Dichterin Gertrud Kolmar ist im Jüdischen Verlag bei Suhrkamp erschienen.

© Suhrkamp Verlag Jüdischer Verlag

Vorsichtig formulierend, der Zensur bewusst, berichtet Gertrud Kolmar über dieses Erlebnis und vieles mehr, das ihr als Jüdin in Berlin widerfährt, in Briefen an ihre Schwester Hilde Wenzel, die in die Schweiz geflüchtet war.

Auch die Biografin besucht die Ahornallee und zwar 2014 in Begleitung von Gertrud Kolmars Neffen Ben Chodziesner, der aus Australien anreiste, Fluchtort seines Vaters Georg Chodziesner, Gertruds Bruder.

Seine „Tante Trude, die er als Vierjähriger das letzte Mal gesehen hatte“, wurde für Ben erst im letzten Jahrzehnt seines Lebens wichtig. Seither besuchte er, bis zu seinem Tod 2018, die einstigen Bezugspunkte der Chodziesners in Berlin: die Ahornallee, den Kurfürstendamm, die Villenkolonie Finkenkrug, wo die Familie – Gertrud Kolmars Mutter Elise Chodziesner starb 1930 – bis zur Zwangsversteigerung ihres Hauses 1939 ansässig war, und das Bayerische Viertel.

Es sind nicht zuletzt solche Begehungen und Begegnungen, die das Buch besonders lesenswert machen – über die ausführlichen Interpretationen hinaus, in denen Heimann heutigen Leser:innen die Lyrik und Prosa Kolmars einfühlsam nahebringt. Herausragend dabei die späten, in der Nazizeit geschriebenen und diese reflektierenden Gedichte, die unter dem Titel „Das Wort der Stummen“ dann erstmals in der DDR veröffentlicht wurden.

Heimann integriert Biografie, Historie und Psychogeografie, etwa wenn sie sich ausmalt, wie Kolmar sich von einem weiteren Wohnsitz der Familie am Kurfürstendamm eines Abends 1922 auf den Weg macht zu einer Lesung ihres Cousins Walter Benjamin. Das ist nicht aus der Luft gegriffen, denn Benjamin hatte für den Auftritt unter Freunden und Verwandten geworben, warum nicht auch bei der Cousine, deren Gedichte er schätzte und zu veröffentlichen half?

Dann läuft der Leser mit Gertrud Kolmar über den Ku’damm, vom Haus, in dem heute Budapester Schuhe verkauft werden, zur Meinekestraße, wo jetzt Marc O’Polo Mode anbietet und im Vorgängerbau zu Kolmars und Benjamins Zeiten die Buchhandlung Reuss & Pollack ihren Sitz hatte.

„Ein Ort“, schreibt die Biografin, „den Ben bei seinen Berlinbesuchen wieder und wieder aufgesucht hat“, ist das Mahnmal Gleis 17. „Hier endet jegliches Verstehen, jede Vorstellungskraft.“

Vom Bahnhof Grunewald aus wurde Gertrud Kolmar, nachdem sie Zwangsarbeit in Lichtenberg hatte leisten müssen, am 2. März 1943 deportiert und bald darauf ermordet, wie kurz zuvor ihr Vater, bei dem sie statt zu fliehen wegen dessen Alters und Gebrechlichkeit geblieben war. „2.3.1943 / 1758 Juden / Berlin – Auschwitz“, steht zu diesem Deportationszug auf dem Mahnmal am Gleis.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false