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Bescherung mit „Tante Frieda“ im Jahr 1972.

© Atila Altun

Meine türkischen Eltern, Frieda und ich: Wie unsere Kreuzberger Nachbarin zu meiner deutschen Oma wurde

Als seine Eltern Mitte der 60er-Jahre aus der Türkei nach Kreuzberg ziehen, nimmt Frieda Klingenberg die neuen Nachbarskinder unter ihre Fittiche. Ein großes Geschenk, meint unser Autor.

Mitten in der Nacht riss die Wohnungsklingel sie aus dem Schlaf. „Frieda, das Baby kommt“, flüsterte mein Vater durch den Briefschlitz seiner Nachbarin. Seit Tagen stand sie bereit, nun würde sie die Kinder betreuen, bis er und meine Mutter aus dem Krankenhaus zurückkehrten. Mit mir.

Vier Jahre zuvor hatten sich Frieda Klingenberg und meine Eltern kennengelernt. Im Hausflur, am Tag ihres Einzugs. Es war Mitte der 60er, bereits nach der großen Gastarbeiterwelle, meine Eltern hatten gerade die Türkei hinter sich gelassen und waren nach Berlin gezogen.

Wir lebten im vierten Stock eines sanierungsbedürftigen Kreuzberger Mietshauses am Kottbusser Damm. Zwei Zimmer, Kachelöfen, kein Bad. Die Toilette – oder, wie Frieda sagte, das „Klosett“ – auf halber Treppe. Zum Waschen wurde eine Wanne mühsam mit Kannen befüllt und entleert. Privatsphäre war ein seltenes Privileg.

Durch sie wurde Deutsch für mich zur zweiten Muttersprache

Frieda wohnte allein in einer gemütlichen Zwei-Zimmer-Wohnung direkt gegenüber. Als ich geboren wurde, war sie 67 Jahre alt, geboren am 16. Juli 1903. An diesem Sonntag wäre sie 120 Jahre alt geworden. Aus unserer Familie war Frieda seit meiner Geburt nicht mehr wegzudenken – auch nicht, als wir ein halbes Jahr später in eine größere Wohnung im Vorderhaus zogen. Wenn die Eltern ganztags arbeiteten, kümmerte sie sich häufig um die Kleinsten. Half geduldig bei den Hausaufgaben, übte mit uns Schreiben, Lesen und Rechnen und belohnte gute Zeugnisse mit einem Fünfmarkschein. Wenn sie uns von der Schule abholte, breitete sie die Arme aus, sobald sie uns sah. Dann gingen wir zu ihr und aßen Armer Ritter oder Kalten Hund – oftmals Speisen, die wir von zu Hause nicht kannten.

Fiel ich hin, nahm sie mich auf den Schoß und tröstete mich mit der ihr eigenen warmherzigen Selbstverständlichkeit. Machte Späße, um mich wieder zum Lachen zu bringen. Als ich größer war, ging ich mit Sorgen oft erstmal zu ihr. Sie las uns Märchen vor oder ging mit uns in die Bücherei am Kotti. Durch sie wurde Deutsch für mich zur zweiten Muttersprache. Ob wir es ohne Frieda alle aufs Gymnasium geschafft hätten? Ich weiß es nicht.

Frieda Klingenberg im Alter von 71 Jahren.

© Atila Altun

Sie unternahm Ausflüge mit uns in den Zoo, zur Funkausstellung, auf die Grüne Woche – oder an die Mauer. Frieda hatte Freunde in Ost-Berlin, besonders Martha fehlte ihr. Seit dem Mauerbau sahen sich die beiden nur noch selten, doch Martha kam jedes Weihnachten zu uns und freute sich über das internationale Festmahl: Gänsebraten, türkischer Pilav, Rotkohl, Bauernsalat. Dazu Ayran. Und zum Nachtisch selbstgemachte Baklava. Während der Döner – noch ohne Soße oder Extrawünsche – sich auch in West-Berlin erst seit Kurzem drehte, war türkische Küche im Ostteil der Stadt fast völlig unbekannt.

Während wir den Tannenbaum mit goldenem und silbernem Lametta schmückten, nahm Frieda einen der Fäden in die Hand, tippte sich an die Schultern und begann mit tiefer Stimme zu reimen: „Rechts Lametta, links Lametta, und der Bauch wird immer fetta!“ Eine Verballhornung eines Claire-Waldoff-Liedes, mit der die Berliner einst Hermann Görings Ordensprunksucht durch den Kakao zogen, wie sie mir später erklärte. Als kleiner Junge fand ich Tante Friedas Darbietung einfach nur urkomisch.

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Nicht nur Weihnachten feierten wir mit Frieda. Zu Ostern versteckte sie Schokoladeneier in der gesamten Wohnung. Manche entdeckten wir, zum Leidwesen meiner Mutter, erst Wochen später. Am Nikolausmorgen fanden wir kleine, mit Nüssen, Mandarinen und Printen gefüllte Säckchen in unseren geputzten Schuhen. Solche Traditionen kannte meine Familie nicht. Und die Traditionen meiner Eltern kannte Frieda nicht. Zum Abschluss des Ramadan etwa ist es üblich, älteren Familienmitgliedern die Hand zu küssen. Dass wir zum Zuckerfest also alljährlich bei ihr „anstanden“, amüsierte sie immens. Jedes Jahr legte sie zu diesem Anlass ihre besten, mit Edelsteinen besetzten Goldringe an.

Sie war, was ich mir unter einer Oma vorstellte

Wir nannten sie „Tante Frieda“, doch ich empfand sie eher als Großmutter. Oder als das, was ich mir unter einer Großmutter vorstellte. Der leiblichen Oma, die ich noch hatte, war ich nur ein einziges Mal begegnet. Für Frieda wiederum waren wir die Enkel, die Familie, die sie nie hatte.

Geboren wurde Frieda Klingenberg vor 120 Jahren in Kreuzberg, wo sie bis zu ihrem Tod blieb. Wenn sie aus ihrem Leben erzählte, blieb vieles im Vagen. Einiges reimte ich mir erst später zusammen. Ihre Abneigung gegen „die Russen“ etwa. Spöttisch, geradezu herablassend erzählte sie von Soldaten der Roten Armee, die sich in Klosettschüsseln gewaschen hätten, offenbar weil, so Tante Frieda, sie deren Zweck nicht gekannt hätten. Im nächsten Moment begann sie stumm zu weinen. Wir Kinder fragten nicht, warum. Von der Luftbrücke indes, von den Amerikanern, vom Präsidentenbesuch in Berlin schwärmte sie.

Frieda Klingenberg bei ihrer Konfirmation im Jahr 1917. Das Foto entstand am Kottbusser Damm 1-2, im Fotoatelier des Kaufhauses Adolf Jandorf, welcher später das KaDeWe eröffnete.

© Atila Altun

Einmal brachte sie ein kleines Bündel von Milliarden-Reichsmarkscheinen mit und scherzte über ihren Reichtum. Und erzählte kurz darauf, wie sie einst im kriegsgebeutelten Berlin in Mülltonnen nach Essbarem – vor allem nach Kartoffelschalen – suchte, um zu überleben.

Und trotzdem: Frieda genoss das Leben. Sie ging aus, tanzte Charleston, machte sich gerne schick. Ließ sich einen Bubikopf schneiden, trug als alte Frau noch Damen- und auch Herrenhüte. Bei der Kaufhauskette Wertheim am Moritzplatz hatte sie als junge Frau einen guten Posten in der Abteilung für Kinder- und Damengarderobe gehabt – und kam ins Schwärmen, wenn sie von ihrer noblen Kundschaft erzählte. Dann wurde der jüdische Besitzer des Kaufhauses enteignet. Frieda sah ihren Chef nie wieder.

Von ihrem Vater, der im Ersten Weltkrieg fiel, erzählte sie fast nichts. Mehr hingegen von ihrer Mutter. Die war hilfsbedürftig, konnte kaum laufen. Gab es Luftalarm, nahm Frieda ihre Mutter huckepack und trug sie vom vierten Stock bis hinunter in den Luftschutzkeller. Und danach wieder zurück. Manchmal verschanzten sie sich mehrere Tage dort unten im Dunkeln.

Sie entschied sich gegen eigene Kinder

Ihre Schwester Marie starb jung an einer Blinddarmentzündung. Friedas Verlobter Willi wollte ihre Bedingung, die hilfsbedürftige Mutter mit in den Haushalt aufzunehmen, nicht akzeptieren. „Meine Mutter war mir wichtiger als ein Mann“, sagte sie später. Also entschied sie sich gegen die Ehe, gegen eigene Kinder. Später dann hatte sie uns.

Kurz vor ihrem 80. Geburtstag zog Frieda in ein Seniorenwohnheim am Kottbusser Tor. Die schweren Biedermeier-Möbel und der vertraute Duft von Kölnisch Wasser zogen mit in die moderne Neubauwohnung.

Das Kottbusser Tor 1993: Hier verbrachte Frieda Mitte der 80er-Jahre einige Jahre in einem Seniorenheim.

© imago stock&people

Zweimal in der Woche besuchte ich, inzwischen ein Teenager, sie nach der Schule, beladen mit Einkaufstüten. Nachdem wir gemeinsam gekocht und gegessen hatten, setzte sie sich auf ihre Ottomane, legte die Füße hoch und ließ mich an ihren Erinnerungen teilhaben.

Und wer pflegt dann mein Grab?

Mit 84 Jahren erhielt Frieda die Diagnose Krebs. Sie war schon lang auf eine Gehhilfe angewiesen, war in den Jahren zuvor oft gestürzt. Wir beschlossen, Frieda bei uns zu Hause aufzunehmen. Meine Mutter kümmerte sich um sie, half ihr beim Waschen und bereitete ihre Lieblingsspeisen zu. Doch Frieda verlor den Appetit. Als sich ihr Zustand zunehmend verschlechterte, brachten wir sie ins Urban-Krankenhaus. Dort starb sie im Herbst 1988 mit 85 Jahren.

Obwohl längst offensichtlich war, dass meine Familie in Deutschland Wurzeln geschlagen hatte, fürchtete Frieda stets, wir könnten in die Türkei zurückkehren. Wer würde dann ihr Grab pflegen? So ließ sie sich auf einem Tempelhofer Friedhof anonym bestatten.

Ihre größte Sorge war zeitlebens ein möglicher Dritter Weltkrieg. Sie hatte die beiden ersten miterlebt, hoffte inständig, dass uns – ihrer Familie – dieses Leid erspart bliebe, der Kalte Krieg machte ihr Angst. Sie vermisste ihre Freunde in Ost-Berlin, sehnte den Fall der Mauer herbei. Elf Monate nach ihrem Tod sollte sich dieser Wunsch erfüllen.

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