zum Hauptinhalt
Wo sind sie denn, die Schülerdaten?

© Getty Images/Westend61/Westend61

Seit sechs Jahren keine Einschulungsberichte: Berlins wichtigste Schülerdaten sind kaum zugänglich

Seit 2017 werden Einschulungsberichte mit wichtigen Daten nicht mehr veröffentlicht. Seither gibt es nur noch unübersichtlichen Tabellen-Salat – auf Anfrage. Was dabei verloren geht, und noch zu finden ist.

Stand:

Wer sie mal mit seinen Kindern mitgemacht hat, weiß es: Nach allen Regeln der Statistik-Kunst werden Berlins Erstklässler im Jahr vor der Einschulung untersucht. Da geht es nicht nur um die Gesundheit, sondern auch um familiäre Bedingungen, Sprachvermögen, Kitabesuch und Lebensumfeld. Ein einmaliger Datenschatz also. Die Öffentlichkeit hat allerdings seit Jahren kaum Zugriff.

Eine plausible Erklärung gibt es dafür nicht. Wer auf den Seiten der zuständigen Senatsverwaltung für Gesundheit nach den Daten sucht, landet im „Archiv“, wo die Einschulungsberichte für 2005 bis 2017 hinterlegt sind. Danach herrscht Ebbe.

Man erfährt lediglich, dass die Ergebnisse der Einschulungsuntersuchungen für 2018, 2019 und 2022 „nur als Tabellensatz“ und auch nur auf Anfrage zur Verfügung stehen. Für 2020 und 2021 fehlt auch dies, weil die Daten dieser Jahrgänge als Folge der Corona-Pandemie nicht vollständig genug vorliegen, um eine „aussagefähige, vergleichbare Auswertung zuzulassen“.

Wir brauchen diese Daten für die Präventionskette gegen Kinder- und Familienarmut.

Falko Liecke (CDU), Staatssekretär für Jugend und Familie

Allerdings kündigt der Sprecher von Gesundheitssenatorin Ina Czyborra (SPD) auf Anfrage an, dass zum Ende des Jahres 2024 ein zeitgemäßeres und stärker auf Visualisierung setzendes „Veröffentlichungssystem“ an die Stelle der bisherigen PDF-Berichte treten soll. Wie auch immer aber dieses neue „System“ aussehen wird: Das Informationsloch der vergangenen Jahre kann es im Nachhinein nicht mehr füllen.

Warum brachen die Berichte unter SPD-Führung ab?

Zudem ist bis heute nicht plausibel erklärt worden, warum unter der damaligen Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD) die Berichte abbrachen. Als der Tagesspiegel im Juli 2021 nach den Daten von 2018 fragte, erklärte Kalaycis Sprecherin, dass die Ergebnisse der Einschulungsuntersuchungen 2018 „pandemiebedingt“ nicht als Bericht, „sondern nur als Einzeltabellen“ herausgegeben würden.

Das war insofern wenig überzeugend, als die Pandemie erst im Frühjahr 2020 ausbrach. Zu diesem Zeitpunkt hätte der Bericht für 2018 längst vorliegen können. Dennoch blieb es bei der Tabellensammlung – und zwar auch als die Pandemie vorbei und Ulrike Grote (Grüne) Gesundheitssenatorin war.

Geboten wird: eine Tabellensammlung

Und: Die Tabellensammlung ist völlig unpraktikabel. Es ist kaum möglich, sich darin einen Überblick zu verschaffen. Zudem stehen die Tabellen nicht im Netz, sondern die Gesundheitsverwaltung wacht darüber. Als der Tagesspiegel die Daten jetzt haben wollte, gab es spontan nur die Zahlen für 2022. Für die Jahre 2018 und 2019 könne man nur „Einzeltabellen“ zur Verfügung stellen. Die gesamte Tabellenmappe hingegen würde „ein paar Tage dauern“.

Fragen wirft auch der Umgang mit den Daten aus 2020 und 2021 auf. Zwar stimmt der Hinweis der Gesundheitsverwaltung, dass pandemiebedingt viele Ärzte der Gesundheitsämter anderweitig gebunden waren und die Untersuchung der Erstklässler lückenhaft geschah. Allerdings gibt es durchaus Bezirke, die repräsentative oder sogar vollständige Daten liefern könnten.

Ein Corona-Datenloch ohne Not?

Dem Vernehmen nach hat die Gesundheitsverwaltung die Veröffentlichung allerdings vereitelt: „Es gab den Hinweis, dass die Daten nicht uns gehören und wir sie nicht ohne die Plausibilisierung durch die Senatsverwaltung herausgeben dürfen“, hieß es aus einem der bezirklichen Gesundheitsämter. Diese Plausibilisierung sei aber nicht erfolgt.

150.000
Erstklässler wurden untersucht, ohne dass diese Daten öffentlich zugänglich wurden.

Unterm Strich wabern somit die Einschulungsdaten von mindestens 150.000 Erstklässlern in der Gesundheitsverwaltung herum, ohne dass sie als Gesamtberichte praktikabel genutzt werden können.

Die Hintergründe sind unklar. Klar ist nur, dass es hier und da politische Bedenken gegen die seit 2005 übliche Form der Berichterstattung gibt. So heißt es im bezirklichen Einschulungsbericht von Mitte, dass die „alleinige Berücksichtigung eines Migrationshintergrundes für die Beschreibung gesundheitlicher und entwicklungsbezogener Ungleichheiten als ungenügend betrachtet und zunehmend kritisiert“ werde. Die „binäre Unterscheidung in Menschen mit und ohne Migrationshintergrund“ könne die Unterschiede in der Gesundheit und Entwicklung nicht abbilden.

Mitte warnt vor Überbewertung der Herkunft

Dies sei der Grund dafür, dass im Bericht aus Mitte – anders als im Senatsbericht – in fünf von sechs Kapiteln auf eine Differenzierung nach Migrationshintergrund verzichte, heißt es im Amt von Gesundheitsstadtrat Christoph Keller (Linke). Allerdings waren es Gesundheitssenatorinnen der Linken, in deren Amtszeit die jetzige Systematik der Auswertung entwickelt und bis 2017 angewandt wurde – Migrationshinweise inklusive.

Was auch immer die Gründe für die ausgebliebene Veröffentlichung der Berichte sind – Berlins Jugendstaatssekretär Falko Liecke (CDU) bedauert, dass die kostbaren Befunde so schwer zugänglich sind.

„Wir brauchen diese Daten für die Präventionskette gegen Kinder- und Familienarmut“, erläutert Liecke, der zuvor zwölf Jahre lang Jugend- und Gesundheitsstadtrat von Neukölln war: Neukölln gibt den ausführlichsten aller Bezirksberichte zu den Einschulungsuntersuchungen heraus.

Lieckes Neuköllner Nachfolger als Gesundheitsstadtrat, Hannes Rehfeldt (CDU), betont denn auch, dass die Einschulungsdaten „wichtig für die politische Steuerung und Information der Öffentlichkeit“ seien.

Tatsächlich fördern sie Überraschendes zutage, was andernfalls kaum zu erfahren ist. Die Themen reichen von A wie Adipositas bis Z wie Zahnpflege. Sogar um die Teilnahmequote bei den Vorsorgeuntersuchungen der Kinderärzte (U1 bis U9) geht es. Außerdem enthalten sie Wichtiges zur Veränderung in der Schülerschaft der Bezirke. Die Erstklässlerdaten zeigen nämlich, dass sich der Zuzug der Migranten kaum in Neukölln niederschlägt: Dort ist die Migrantenquote seit 2012 nahezu identisch bei 67 Prozent.

Stattdessen finden die Veränderungen andernorts statt. So kam es fast zur Verdoppelung der Migrantenquote unter den Erstklässlern in Marzahn-Hellersdorf auf jetzt 38 Prozent. In Spandau wurden aus knapp 40 Prozent Migranten unter den Erstklässlern über 60 Prozent, was beinahe Neuköllner Niveau entspricht – wobei Spandaus Schulen weniger Zeit als Neukölln hatten, sich auf diese neuen Gegebenheiten einzustellen.

Das bedeutet beispielsweise, dass der Kitaausbau nicht Schritt hält: Ein Großteil der Kinder kommt ohne Deutschkenntnisse zur Schule, weil es in Spandau noch weniger niedrigschwellige Angebote gibt als in den typischen Brennpunkten.

Der Handlungsdruck ist jedenfalls groß, wie auch gerade erst die Vergleichsarbeiten der Drittklässler zeigten: Rund 40 bis 50 Prozent von ihnen sprechen so schlecht Deutsch, dass sie das Basiswissen für den Wechsel zur Oberschule kaum noch in der vorgesehenen Zeit erwerben können.

Mit anderen Worten: Wer die Erstklässlerdaten kennt, weiß besser, dass er mehr tun muss als bisher und vor allem: wo.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })