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© IMAGO/Zoonar

Anfang einer neuen Ära? : „Die digitale Revolution in der Krebsbekämpfung kann beginnen.“

Vor fünf Jahren startete die Nationale Dekade gegen Krebs. Experten ziehen Bilanz: Was hat die Forschungsinitiative erreicht – und was bleibt zu tun, damit immer mehr Erkrankte überleben.

Krebs gilt als Krankheit der tausend Gesichter. Zwar ist es der Medizin in den vergangenen Jahren gelungen, Krebszellen immer präziser zu identifizieren und zu bekämpfen. Das Behandlungs-Portfolio der ungezielten, breit wirksamen Chemotherapien konnte zudem durch gezielte neuartige molekulare und immunologische Therapien effektiv ergänzt werden. Doch noch immer gibt es viele ungeklärte Fragen. Warum etwa werden Krebszellen resistent? Wie können Metastasen besser bekämpft werden? Und wie lässt sich das Potenzial von Immuntherapien in Kombinationen noch besser nutzen?

Um diese und andere Fragen eines Tages beantworten zu können, hat das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) vor fünf Jahren die Nationale Dekade gegen Krebs ausgerufen. Zur Halbzeit zog das Ministerium am vergangenen Freitag mit dem Format „Future X Change“ im Berliner Futurium eine Bilanz der großen Krebsforschungsinitiative. Im Mittelpunkt stand das Thema ,Survivorship‘ – also das Überleben der Erkrankung.

Denn das ist in immer mehr Fällen möglich. Doch um diesen Erfolg immer weiter voranzutreiben, braucht es mehr und bessere Daten. Seit Jahren predigt Michael Baumann, Vorstandsvorsitzender und Wissenschaftlicher Stiftungsvorstand des Deutschen Krebsforschungszentrums, dass die Forschung ohne Daten im Blindflug sei.

Datenschutz, Regulierung und die Frage, wer mit medizinischen Daten arbeiten darf, sind komplexe Herausforderungen.

Thorsten Schlomm, Onkologe

Wie man sie unter den aktuell geltenden Datenschutzbestimmungen sammeln und nutzbar machen kann, damit hat sich Thorsten Schlomm in den vergangenen Jahren intensiv befasst. Er ist nicht nur Direktor der Klinik für Urologie an der Charité, sondern auch Gründer des „Deutschen Netzwerks für angewandte Präzisionsmedizin“ (DNA-Med). „Die alltägliche Nutzung KI-basierter digitaler Technologien, von Navigationsapps über Online-Produktbewertungen bis hin zu sozialen Netzwerken, hat unser Leben nachhaltig verändert“, sagt der Professor zum Tagesspiegel. „Diese Technologien nutzen kollektive digitale Schwarmintelligenz – individuelle Erfahrungen von Millionen Menschen werden strukturiert und durch Algorithmen in nützliche Hilfen umgewandelt.“

Die elektronische Patientenakte ermögliche eine effiziente Datennutzung, sagt der Mediziner

Im Gesundheitswesen, insbesondere in der Krebsforschung und -behandlung, stecke diese Entwicklung noch in den Kinderschuhen. „Datenschutz, Regulierung und die Frage, wer mit medizinischen Daten arbeiten darf, sind komplexe Herausforderungen“, so Schlomm. Die Nationale Dekade gegen Krebs setze an genau diesen Punkten an und ziele darauf ab, ein dringend notwendiges Gerüst für die Nutzung medizinischer Daten, einschließlich Genomdaten, aufzubauen. „Durch die Vernetzung von Akteuren aus Krankenversorgung, Forschung, Industrie und den relevanten Ministerien entstehen Synergien, die die Krebsbekämpfung effektiver und patientenzentrierter gestalten“, sagt der Klinikdirektor.

Aus seiner Sicht ein weiterer wichtiger Schritt in diese Richtung ist die Einführung der elektronischen Patientenakte (ePA); sie ermöglicht in den Augen von Schlomm eine effiziente und strukturierte Datennutzung und -auswertung.

Die Patienten müssen im Zentrum der Digitalisierungsprojekte stehen und ihre Rechte aktiv einfordern.

Thorsten Schlomm, Onkologe

Hoffnung machen ihm aktuell auch die jüngsten Datennutzungsgesetze aus dem Bundesgesundheitsministerium, in denen er wichtige Eckpfeiler für eine patientenzentrierte Datennutzung erkennt. „Dabei müssen die Patienten aber eine noch entscheidendere Rolle spielen: Sie müssen im Zentrum der Digitalisierungsprojekte stehen und ihre Rechte aktiv einfordern.“

Die Liste der angepackten und umgesetzten Projekte ist lang

Schlomms Halbzeitbilanz fällt insgesamt positiv aus und lautet: „Die digitale Revolution in der Krebsbekämpfung kann beginnen.“ Die nächsten fünf Jahre würden zeigen, wie weit diese Technologien die Diagnose und Behandlung von Krebserkrankungen verbessern können. „Wir stehen am Anfang einer neuen Ära, die durch digitale Innovationen und interdisziplinäre Zusammenarbeit geprägt sein wird“, sagt er.

Tatsächlich ist die Liste, der bereits angepackten und umgesetzten Projekte, lang und reicht vom Ausbau des Nationalen Centrums für Tumorerkrankungen (NCT) über die Förderung Digitaler FortschrittsHubs Gesundheit innerhalb der Medizininformatik-initiative bis hin zur Unterstützung interdisziplinärer Verbünde zur Erforschung der Darmkrebspräventionsmöglichkeiten bei jüngeren und künftigen Generationen.

Das sind Strukturen, die bleiben und uns nachhaltig weiterbringen werden.

Angelika Eggert, Onkologin

Als besonders wichtig erachtet Angelika Eggert den Ausbau des NCT-Netzwerks. Die Einstein-Professorin für Pädiatrie mit Schwerpunkt Onkologie und Hämatologie und Direktorin der gleichnamigen Klinik an der Charité sagt zum Tagesspiegel: „Das sind Strukturen, die bleiben und uns nachhaltig weiterbringen werden.“ Das BMBF hatte innerhalb der Dekade den Ausbau von vier weiteren Standorten in Deutschland ausgeschrieben – zusätzlich zu den beiden bereits bestehenden in Heidelberg und Dresden. Die neuen Standorte sind Berlin, Essen/Köln, Tübingen-Stuttgart/Ulm und WERA –Würzburg mit den Partner Erlangen, Regensburg und Augsburg.

Das hebt auch Baumann hervor, der nicht nur Vorstandsvorsitzender des Deutschen Krebsforschungszentrums ist, sondern auch Co-Vorsitzender des Strategiekreises der Nationalen Dekade gegen Krebs. „In der Nationalen Dekade ist es uns gelungen, wirklich innovative Strukturen aufzubauen und langfristige Perspektiven zu eröffnen, die auch über Legislaturperioden hinaus Bestand haben“, sagt er zum Tagesspiegel.

Patientinnen und Patienten waren von Anfang an bei allen Aktivitäten der Dekade auf Augenhöhe dabei.

Michael Baumann, Co-Vorsitzender des Strategiekreises der Nationalen Dekade gegen Krebs

Neben dem Ausbau der NCT habe sich die Einbindung der verschiedenen onkologischen Stakeholder in die Steuerung der Dekade etabliert. „Das heißt, die Akteurinnen und Akteure bringen sich mit ihren unterschiedlichen Perspektiven ein“, so Baumann. „Das gilt insbesondere für Patientinnen und Patienten, die von Anfang an bei allen Aktivitäten der Dekade auf Augenhöhe dabei waren.“ Nicht zuletzt sei es gelungen, mehrere Ausschreibungen für große Forschungsvorhaben auf den Weg zu bringen, die sich passgenau am medizinischen Bedarf orientieren. „Ich bin davon überzeugt, dass die Nationale Dekade die onkologische Landschaft in Deutschland über viele Jahrzehnte und auch nach dem offiziellen Ende 2028 nachhaltig prägen wird.“

Bei Kindern und Jugendlichen liegt die Heilungschance mittlerweile bei 82 Prozent.

Angelika Eggert, Onkologin

Daran glaubt auch Angelika Eggert, die der Arbeitsgruppe „Große ungelöste Fragen der Krebsforschung“ der Nationalen Dekade angehört und beim Future X Change unter anderem an der Diskussion zum Thema „Survivorship“ teilnahm. Bei Kindern und Jugendlichen liege die Heilungschance mittlerweile bei 82 Prozent, so die Professorin. Daher sei das Thema „Survivorship“ in der Pädiatrie von besonders großer Bedeutung. „Für uns geht es beispielsweise zukünftig darum, Spätfolgen von Chemotherapien nicht nur behandeln, sondern sie anhand genetischer Profile auch voraussagen zu können“, sagt Eggert. Diese Informationen fließen dann in die Therapieentscheidungen frühzeitig hinein.

Die Medizinerin fordert mehr Public Private Partnership, um teure Forschungsvorhaben zu finanzieren

„Survivorship“ ist also auch immer eng mit der Prävention verbunden. „Und zwar mit der Tertiärprävention“, so Eggert. Bei dieser gehe es darum, einen Rückfall, eine Chronifizierung oder einen Folgeschaden zu verhindern beziehungsweise zu lindern. Um in diesem Forschungsbereich weitere Projekte aufsetzen zu können, bedarf es Eggert zufolge nicht nur einer auskömmlichen Finanzierung, sondern großer Kohorten – also Daten möglichst vieler Patientinnen und Patienten.

Und noch etwas ist knapp und wird in Zukunft immer knapper: wissenschaftlicher Nachwuchs. In Anbetracht des demografischen Wandels und der aktuellen Haushaltslage sowie der gerade stattfindenden Tarifverhandlungen für Ärztinnen und Ärzte in der Universitätsmedizin zeigt sich Eggert in großer Sorge über die Zukunft der Forschung. „Deutschland muss sich auch für Public Private Partnership Projekte öffnen“, sagt die Professorin. Und damit dem Beispiel der USA folgen. Nur so ließen sich langfristig teure Forschungsvorhaben mit einem gesamtgesellschaftlichen Wert finanzieren.

Die Nationale Dekade gegen Krebs ist aus Eggerts Sicht trotz aller Herausforderungen ein großer Erfolg. Und auch, wenn heute erst Halbzeit ist, so müsse man schon jetzt für die Zeit danach planen. „Mit dem BMBF sind wir bereits im Austausch darüber, welche Projekte wie fortgeführt werden können“, so Eggert.

Sie sieht aktuell zum Beispiel großes Potenzial in der Weiterentwicklung systemmedizinischer Ansätze und insbesondere der sogenannten „Liquid Biopsies“, bei denen keine Gewebeprobe, sondern das Blut auf Tumor-DNA hin untersucht wird. Die Ergebnisse erlauben etwa ein gezieltes Monitoring von Patientinnen und Patienten mit einem erhöhten Rezidivrisiko.

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