zum Hauptinhalt

Kann Digitalisierung die Impfquoten steigern?: So verlief der 4. Tagesspiegel-Impfgipfel

Mehr Menschen zum Impfen bewegen, darum geht es beim Tagesspiegel-Impfgipfel, der dieses Jahr vor allem die Chancen der Digitalisierung in den Fokus genommen hat. Ein Bericht.

Herbstzeit ist auch Impfzeit – und deshalb findet immer dann, wenn die Blätter fallen, der Tagesspiegel-Impfgipfel statt. Wie können wir die Impfquoten steigern, bei denen Deutschland im Vergleich zu anderen westlichen Industrienationen nicht gut dasteht? Das ist jedes Jahr die überwölbende Frage, die Fachmännern und -frauen aus dem Gesundheitswesen unter Moderation von Tagesspiegel-Herausgeber Stephan-Andreas Casdorff erörtern – und die zur Gründung des Nationalen Aktionsbündnisses Impfen im Juni 2023 geführt hat. Unterfüttert wird der Tagesspiegel-Impfgipfel regelmäßig mit Daten des Meinungsforschungsinstituts Civey.

Im Mittelpunkt des Gipfels, der am vergangenen Donnerstag bereits zum vierten Mal stattfand, stand dieses Jahr die Digitalisierung mit ihrem Herzstück, der elektronischen Patienenakte (ePA) sowie die Frage, was sie zum Erreichen des großen Ziels – einer Steigerung der Impfquoten – beitragen kann.

Bedrohungen durch Klimawandel

Doch zunächst umreißt Gerit Solveig vom Bundesgesundheitsministerium am Donnerstag nochmal den globalen Rahmen: Der Klimawandel ist eine der größten Herausforderungen überhaupt, und ihr kann nur gesamtgesellschaftlich begegnet werden. Durch steigende Temperaturen breiten sich in Deutschland bisher unbekannte Erreger wie das Westnil-Virus aus, die asiatische Tigermücke wird hier immer öfter gesehen.

Doch es gibt auch gute Nachrichten: „Die Pandemie verlief dank der Impfungen bei uns relativ mild, und erfreulicherweise wird die Taktung bei der Entwicklung neuer Impfstoffe immer schneller“, so Solveig. Doch vieles müsse auch noch verbessert werden. So erfolge die Überprüfung von Impfpässen bei Kindern nicht überall einheitlich. Das Ziel des Gesundheitsministeriums: Impfdaten besser bereitzustellen und automatisiert in die ePA einzutragen.

Generell könne Digitalisierung Barrieren senken und Informationen schneller an die Bevölkerung bringen, meint Henning Stötefalke, Leiter des Hauptstadtbüros von DAK Gesundheit. Doch die Hürden sind weiterhin groß, das weiß Heidrun Thaiss, Vorstandsvorsitzende des Nationalen Aktionsbündnisses Impfen: „Wir brauchen ein Bewusstsein, wie wichtig Prävention ist, dass sich Prävention rechnet. Sie muss raus aus der ,Nice to have‘-Ecke.“ Dabei sei zielgruppenspezifische Information die größte Herausforderung.

Die Bewältigung der Aids-Krise der 1980er-Jahre habe, zum Vergleich, unter völlig anderen Bedingungen stattgefunden als heute. Damals gab es eine klare Botschaft, ein großes Budget, relativ wenig Betroffene und einen oder höchstens zwei Medienkanäle. Heute haben sich die Rezeptionsstrukturen völlig geändert, gerade unter Jugendlichen, bei denen ständig neue Online-Portale angesagt sind. Han Steutel, Präsident der forschenden Pharma-Unternehmen, glaubt dabei an keine anderen Lösungen mehr als an digitale: „Wer in seiner Jugend nicht fernschaut, wird auch als 40- oder 50-Jähriger nicht mehr zum Fernsehen zurückfinden.“

Wir brauchen Daten zeitnah, in real time. Unsere Kenntnisse kommen oft viel zu spät.

Thomas Mertens, Vorsitzender der Ständigen Impfkommission

Eine wichtige Rolle während der Pandemie spielte die 18-köpfige Ständige Impfkommission (Stiko): Sie erarbeitet offizielle Impfempfehlungen und ist dabei ehrenamtlich tätig. Tomas Jelinek, Direktor des Berliner Centrums für Reise- und Tropenmedizin, fordert in seinem Statement eine „Professionalisierung“ der Stiko.

Ihr Vorsitzender Thomas Mertens ist ebenfalls Gast beim Impfgipfel, geht aber auf diese Forderung nicht weiter ein. Stattdessen muss er erst mal ein Herzensanliegen loswerden: „Die Kenntnisse übers Impfen sind in der Ärzteausbildung kein verpflichtender Punkt mehr. Das muss man sich mal vorstellen. Was für ein krasses Missverhältnis zu unserer Erkenntnis, dass Prävention auch in Zukunft entscheidend ist.“

Dann erst spricht er über das, was sich bei der Stiko ändern muss: „Wir brauchen Daten zeitnah, in real time. Unsere Kenntnisse kommen oft viel zu spät. Wir können 2023 nicht mit Daten von 2022 arbeiten“.  Generell wünscht sich Mertens, dass die Politik nicht so viele Teillösungen schaffen würde („Flickschusterei“). Sondern eine tragfähige und zukunftsfähige Gesamtlösung der medizinischen Datenerhebung und Auswertung. „Das brauchen wir als Stiko wie das tägliche Brot“.

Praktische Probleme

Einer, der jedes Jahr beim Impfgipfel direkt und im Wortsinn aus der Praxis berichten kann, ist Kinderarzt Thomas Fischbach vom Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte. Er macht auf ganz praktische Probleme bei der Digitalisierung aufmerksam: „Jemand muss die ePA ausfüllen und dafür ausgebildet sein, wer macht das? In Berufsschulen ist das noch kein Thema.“

Die Zeche für die Kosten der Digitalisierung zahlt der Arzt.

Thomas Fischbach, Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte

Dazu kommt die finanzielle Seite, Fischbach erzählt, dass er sich wegen des höheren Datenvolumens einen neuen Server für seine Praxis anschaffen musste und in Folge auch noch neue Router. 20.000 Euro, von denen die Kasse einen Bruchteil übernommen hat: „Die Zeche zahlt der Arzt“.

Ein im Publikum anwesender Berliner Arzt stößt in ein ähnliches Horn: „Auf den traditionellen Impfpass können wir nicht verzichten. Ein digitaler Impfpass bedeutet doppelte Dokumentation. Das kostet unendlich viel Zeit.“ Sein Vorschlag, jeden Abend im Fernsehen in den Sekunden vor der Tagesschau statt für Baumärkte fürs Impfen zu werben, wird von Moderator Stephan-Andreas Casdorff dankbar aufgegriffen.

Dänemark, du hast es besser? Tyra Grove-Kraus vom Staten Serum Institut in Kopenhagen berichtet in einer Videobotschaft, was im Norden alles anders läuft, von den rechtlichen Voraussetzungen bis zur starken digitalen Infrastruktur und einer Datenbasis, auf die regelmäßig für Impferinnerungen zurückgegriffen wird. 

Womit wir auch beim Thema Datenschutz wären: Da gibt es länderspezifische Sensibilitäten, die in Deutschland höher sind als anderswo. Auch das steht einer umfassenden Digitalisierung des Gesundheits- und Impfwesens im Wege.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
false
showPaywallPiano:
false