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Der russische Präsident Wladimir Putin während einer Rede vor der Staatsduma.

© imago images/SNA/Ramil Sitdikov

Drei russische Experten über den Krieg: „Sollte Putin abgesägt werden, wird die Bevölkerung teilnahmslos zusehen“

Wie geht es für Russland weiter: auf dem Schlachtfeld, in der politischen Elite, in der Wirtschaft? Drei russische Experten geben ihre Einschätzung ab.

Wladimir Pastuchow (Politologe und Senior Fellow am University College London):
Ich gehe davon aus, dass derzeit weder Russland noch die Ukraine über die Mittel verfügen, um die Lage an der Front grundlegend zu ihren Gunsten zu verändern. Im Fall der Ukraine müsste der Westen seine Militärhilfen um ein Vielfaches aufstocken – sowohl quantitativ als auch qualitativ.

Ein Sieg Russlands (ohne den Einsatz von Massenvernichtungswaffen) wäre nur bei einer vollständigen Mobilisierung vorstellbar. Teilmobilisierungen reichen dafür nicht aus.

Keines der beiden Szenarien erscheint derzeit als wahrscheinlich. Ich rechne daher eher mit einer „Palästinisierung des Konflikts“, bei der sich beide Gesellschaften schrittweise an den Krieg gewöhnen werden. Auch an die Option eines Waffenstillstands glaube ich nicht, da ein solcher sowohl für den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj als auch für den russischen Präsidenten Wladimir Putin mehr innenpolitische Probleme schaffen würde als eine Fortsetzung des Krieges.

Russische Wehrpflichtige, die zum Militärdienst einberufen wurden, am 27. November 2022 auf einem Bahnhof in Omsk, Russland.
Russische Wehrpflichtige, die zum Militärdienst einberufen wurden, am 27. November 2022 auf einem Bahnhof in Omsk, Russland.

© ALEXEY MALGAVKO/REUTERS

Mit Blick auf die strategischen Entwicklungen gehe ich nicht davon aus, dass die russischen Attacken auf zivile Einrichtungen und kritische Infrastruktur den Verteidigungswillen der Ukraine brechen werden. Das zeigt auch ein Blick auf die Geschichte. Schließlich haben die Bombenteppiche auf London und Kent oder Berlin und Dresden im Zweiten Weltkrieg in beiden Ländern keine Antikriegsstimmung heraufbeschworen.

Von ukrainischer Seite ist jedoch mit intensiven Versuchen zu rechnen, den Krieg in den kommenden Monaten nach Russland zu tragen. Es wäre eine logische Reaktion der ukrainischen Führung. Wege dazu werden sich aufgrund westlicher Waffenlieferungen früher oder später ergeben.


Alexander Kynew (unabhängiger Politikwissenschaftler):
Die Stimmungslage innerhalb der russischen Gesellschaft lässt sich nur schwer beurteilen, es fehlt schlicht an Informationen. Klar ist allerdings, dass die Eliten besser über den Krieg in der Ukraine Bescheid wissen als die breite Masse der russischen Bevölkerung.

Was aber lässt sich mit Sicherheit sagen?

Erstens: Macht, egal wer sie ausübt, hängt immer zu einem gewissen Maß von der Unterstützung der Bürger ab. Putin weiß das, seine Propagandamaschinerie läuft daher ununterbrochen. Gleichzeitig richtete Putin seine politischen Manöver gerne an in der Gesellschaft vorherrschenden Stereotypen und Stimmungen aus.

Seine Zustimmungswerte sind, soweit man das beurteilen kann, immer noch hoch. Obwohl auch die staatlichen Umfragen erste Risse offenlegen. So sollen sich 90 Prozent der Bürger laut dem russischen Umfrageunternehmen „Russian Fields“ überhaupt nicht mehr zu politischen Themen äußern wollen.

Zweitens: Die Eliten scharen sich um Putin. Aus dem einfachen Grund, dass sie Angst vor dem Regime des Kreml-Chefs haben. Sollte sich die Stimmung innerhalb der Bevölkerung verschlechtern, wird es auch im Elitenzirkel weiter gären.

Der russische Präsident Wladimir Putin, begleitet vom russischen Verteidigungsminister Sergej Schoigu, während einer Militärparade im vergangenen Jahr.
Der russische Präsident Wladimir Putin, begleitet vom russischen Verteidigungsminister Sergej Schoigu, während einer Militärparade im vergangenen Jahr.

© IMAGO/Sputnik/Alexei Danichev

Drittens: Die russische Gesellschaft versinkt in ihrer Lethargie. Das betrifft jedoch nicht nur mögliche Protestbewegungen, sondern auch die Unterstützung für den aktuellen Herrscherzirkel. Genau dieser Umstand sorgt für Unruhe bei bestimmten Personen, die es mit Putin halten. Denn sollte der plötzlich in Form eines Putsches abgesägt werden, wird die Bevölkerung teilnahmslos zuschauen.

Das Regime wird so oder so enden, hier kann man optimistisch sein. Und zumindest angesichts des Alters von Putin mag dieser Tag gar nicht mehr so weit entfernt sein.


Natalja Subarewitsch (Wirtschaftsgeographin):
Die westlichen Sanktionen gegen Russland zeigen langsam Wirkung. Insbesondere die rückläufige Produktion ist dafür ein guter Indikator. Allerdings sind bisher weder die Öl- noch die Gasindustrie ins Wanken geraten. Sie hatten Glück und wurden in erster Linie von den hohen Weltmarktpreisen gerettet. Ganz anders die Metallbranche, die in ernsthaften Schwierigkeiten steckt. Auch die Düngemittelbranche hält sich bedeckt, was den eigenen Zustand betrifft.

Auf Unternehmensebene wurden einige Vermögenswerte abgewanderter westlicher Marken von russischen Eigentümern aufgekauft. In vielen Fällen stellt das jedoch keine Option dar. So ergibt es beispielsweise keinen Sinn, Autofabriken westlicher Firmen zu kaufen, denn russische Autos für den chinesischen Markt lassen sich nicht auf ehemaligen Renault-Fließbändern fertigen. Das führt direkt zu einer der zentralsten Fragen mit Blick auf russische Exporte: Inwieweit ist eine Wende nach Osten möglich?

Für manche Wirtschaftszweige ist das bestimmt eine Option. Gerade im Rohstoffsektor – beispielsweise bei der Kohle – werden sich immer Abnehmer finden, wenn auch womöglich zu deutlich günstigeren Preisen. Das zeigt sich bereits an Rabatten für russische Öl- und Kohleexporte nach China.

Russische Öltanker im Hafen von St. Petersburg.
Russische Öltanker im Hafen von St. Petersburg.

© Cavan/Getty Images

Problematischer wird es für Unternehmen, die in besonderem Maße in die globale Wertschöpfungskette eingebunden sind. Westliche Technologie von Firmen wie Siemens oder Alstom wird nicht mehr zu bekommen sein.

Am härtesten wird es mit ziemlicher Sicherheit die russische Mittelschicht treffen, beispielsweise all diejenigen, die ihren Job in der Automobilindustrie verloren haben und wohl so bald auch keinen neuen finden werden. Für sie gibt es kaum mehr Erwerbsmöglichkeiten.

Dass die Arbeitslosigkeit nicht enorm angestiegen ist, liegt zum einen am russischen Staat, der diese Kennziffer gekonnt verschleiert, und zum anderen an der massiven Abwanderung russischer Staatsbürger ins Ausland. Sowohl die Nachfrage als auch das Angebot an Arbeitskräften sinkt.

Bei den Konsumgütern sorgen Parallelimporte dafür, das größere Engpässe in den Regalen bisher ausgeblieben sind. Lediglich das Sortiment in den Supermärkten ist etwas geschrumpft.

Insgesamt zeigt sich die russische Wirtschaft erstaunlich widerstandsfähig. Dabei hat ausgerechnet die Corona-Pandemie dabei geholfen, die Widerstandsfähigkeit zu erhöhen.

Als die globalen Lieferketten aufgrund der Pandemie zwischenzeitlich zum Erliegen kamen, begannen viele Unternehmen damit, ihre Lagerbestände massiv zu erhöhen. So auch in Russland. Bestände für sechs Monate und mehr wurden aufgebaut. Auch das verhinderte, dass die inländische Produktion flächendeckend innerhalb weniger Monate zum Erliegen kam.

Anmerkung: In einer früheren Version dieses Textes hatten wir die Aussagen Natalja Subarewitschs versehentlich einem anderen Experten zugeschrieben. Dies bitten wir zu entschuldigen.

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