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Gebet am Strand.: Überlebende gedachten am frühen Montagmorgen ihrer Toten, die vor einem Jahr zur selben Zeit im Meer vor Kalabrien starben.

© dpa/Valeria Ferraro

Ein Jahr nach dem Schiffbruch: Politik und Überlebende gedenken der Toten von Cutro

Am 26. Februar 2023 zerschellte ein Schiff mit 180 Menschen an Bord vor der Küste Kalabriens. Warum es keine Antwort auf ihre Notrufe gab, ist weiter ungeklärt.

Ein Jahr nach dem Schiffbruch vor der süditalienische Küste haben Überlebende und Vertreter der Politik am frühen Montagmorgen der Toten und Vermissten gedacht.

Das Boot war am 26. Februar 2023 gegen 5.30 Uhr vor dem Dorf Steccato di Cutro in der Provinz Crotone zerschellt. Die Leichen von 94 Menschen, unter ihnen 34 Kinder, wurden in den folgenden Tagen gefunden. Von Dutzenden fehlt nach wie vor jede Spur, nur 31 überlebten.

An Bord waren vermutlich 180 Personen, die von der Türkei aus versucht hatten, in die Europäische Union zu kommen. Die meisten stammten aus Afghanistan, dem Iran und Pakistan.

Bei der Gedenkfeier am Ort des Geschehens sprach auch die Chefin der größten Oppositionspartei PD Elly Schlein. Den anwesenden Ersthelfern von seinerzeit versprach sie bleibende Aufmerksamkeit auf die Untersuchungen der Justiz. Das Unglück dürfe nicht in Vergessenheit geraten.

Trotz brutaler Grenzpolitik mehr Überfahrten

„Seit einem Jahr stellen wir immer dieselbe Frage“, sagte Schlein. „Wie kam es, dass keine Schiffe der Küstenwacht ausliefen, um einem Boot zu helfen, von dem man seit Stunden wusste, dass es in Seenot war?“

Cutro war die erste und bisher dramatischste Havarie seit Amtsantritt der rechten Regierung von Ministerpräsidentin Giorgia Meloni. Sie war im Oktober zuvor mit dem Versprechen angetreten, die Fluchtbewegung nach Europa einzudämmen.

Ihr Innenminister Matteo Piantedosi, der der besonders fremdenfeindlichen Lega-Partei angehört, musste nur wenige Tage nach dem Unglück eingestehen, dass dies nicht gelungen ist: Zwischen Januar 2023 und Mitte März hatte sich die Zahl der Ankünfte in Italien im Vergleich mit dem Vorjahreszeitraum sogar verdreifacht.

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Kinderleichen wurden nach dem Unglück gefunden. Die genaue Zahl aller Toten ist unbekannt, weil die exakte Zahl der Bootsinsassen nicht feststeht, etwa 180 Menschen. Überlebt haben 31.

Cutro machte dagegen deutlich, dass die Regierung dennoch auf eine nicht funktionierende, tödliche Abschreckung setzen will. In der Folge setzte Melonis Kabinett per Dekret unter anderem die Strafen für Fluchthilfe auf 20 bis 30 Jahre herauf. Mehrere Männer, die das überladene Boot nach Cutro gesteuert hatten, wurden sofort vor Gericht gestellt.

Viele Indizien, noch kein Ergebnis

Dagegen haben die Ermittlungen über die Verantwortung für die Toten auf europäischer Seite noch kein greifbares Ergebnis gehabt – trotz starker Indizien auf unterlassene Hilfeleistung.

So wurde bekannt, dass ein Frontex-Flug das Schiff etwa sechs Stunden vor dem Unglück gesichtet hatte und durch dessen Tiefgang wusste, dass es überladen war. Ein Notruf ging aber nach Aussagen der Regierung in Rom nicht ein.

Der Kommandant der zuständigen Hafenbehörde von Crotone dementierte die Darstellung, man habe wegen Windstärke 7 nicht helfen können. Seine Aussagen wie auch Andeutungen des Innenministers selbst ließen darauf schließen, dass in solchen Fällen immer öfter Grenzschutz vor Rettung geht:

Dann nämlich, wenn wie im Falle Cutro die Steuerpolizei ausfahren soll und nicht die Küstenwache. Die „Guardia di Finanza“ ist für den Grenzschutz mitverantwortlich; die Küstenwache verfügt aber über sturmfestere Schiffe, die helfen könnten.

In tausend Stücken. Ersthelfer zwischen den Trümmern des Flüchtlingsboots am Strand von Stecco di Cutro vor einem Jahr.

© REUTERS/REMO CASILLI

Piantedosi hatte sich mit seiner ersten Reaktion auf den Tod so vieler Menschen sogar die Empörung des Erzbischofs von Palermo zugezogen, weil er erklärt hatte, keine Verzweiflung rechtfertige Eltern, die ihre Kinder auf eine solche Fahrt mitnähmen.

Im Gespräch mit dem Tagesspiegel zog Filippo Miraglia, Koordinator der in der Migrationshilfe engagierten NGOs Italiens, eine bittere Bilanz: „In diesem einen Jahr nach dem Massaker von Steccato di Cutro hat die Regierung geradezu obsessiv an Gesetzen und politischen Initiativen gearbeitet, die ein Geschenk für die Menschenhändler sind.“

„Geschenke für die Menschenhändler“

So mache sie es immer schwerer, legal über die Grenze zu kommen und einen Aufenthaltstitel in Italien zu bekommen, „ein Gefallen für alle, die an illegalen Grenzübertritten verdienen“, so Miraglia.

Melonis Migrationspolitik schade auch Italien: Dass Aufenthaltstitel, die humanitären Schutz gewähren, nicht mehr in einen Arbeitsaufenthalt umgewandelt werden dürften, heiße vor allem: „Mehr Schwarzarbeit, weniger Steuereinnahmen und Sozialbeiträge.“

Die neuen Migrations- und Asylregeln, die die EU demnächst verabschiede und denen Italien vorgearbeitet habe, so Miraglia, seien „eine Kapitulationserklärung vor dem Fremdenhass der Rechten“. Angst und Rassismus zu schüren „mag nützlich sein, um den Parteien Konsens zu verschaffen, löst aber kein Problem. Im Gegenteil: Es macht eine Lösung noch schwieriger“.

Beim Gedenken am Montagfrüh war kein Mitglied der Regierung vor Ort, Piantedosi allerdings hatte, wie erst später bekannt wurde, bereits am Freitag Blumen ans Grab des kleinen Ali gebracht. Das Neugeborene, das bei der Havarie starb, ist auf dem Friedhof von Steccato di Cutro bestattet

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