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Festnahme von Migranten an der ungarisch-serbischen Grenze (Archivbild von 2015)

© AFP/Attila Kisbenedek

Verstärkte Flucht über die Balkanroute: „Je größer der Andrang, desto mehr Gewalt“

Die Pandemie hielt sie auf, jetzt versuchen wieder mehr Menschen von den balkanischen Nachbarstaaten aus, die EU zu erreichen. Vor allem Kinder leiden. Ein Report aus Serbien.

Der Nebel über der verfallenen Fabrikhalle lichtet sich nur langsam. Weißer Reif hat in der klirrend kalten Nacht die Müllberge vor der Industrieruine am Ortsausgang der nordserbischen Provinzstadt Sombor überzogen. Bibbernd versuchen zwei übernächtigte Jugendliche, sich an einem kokelnden Feuer zu wärmen.

Ein verhärmter junger Mann mit müdem Blick stellt sich als Hassan vor, Lehrer aus der syrischen Kurdenhochburg Qamishli. Warum er vor 90 Tagen seine Heimat verlassen hat? „Bei uns ist Krieg.“ Er wolle „ein anderes, normales Leben. Aber der Weg ist schwer, sehr schwer.“

Aufgebracht weist vor dem wilden Flüchtlingslager in Sombor ein junger Mann auf seinen eingegipsten Arm. Zwei Tage zuvor hätten ungarische Grenzpolizisten seinem Gefährten mit Knüppelschlägen den Arm gebrochen, sagt Hassan. Ein anderer zeigt wortlos die schlecht vernarbten Bisswunden an den Beinen.

„Bulgariens Polizei hetzte Hunde auf uns und nahm unser Geld ab“, berichtet Hassan. Tagelang lang sei er mit den Schicksalsgenossen ohne Nahrung durch die bulgarischen Berge nach Serbien gezogen: „Es war sehr kalt. Einer von uns ist in den Wäldern gestorben.“

Offiziell 5200 Flüchtlinge in Serbien

Den größten Andrang an den EU-Außengrenzen seit der Flüchtlingskrise von 2015/2016 vermeldet die EU-Grenzschutzbehörde Frontex: Fast die Hälfte der 308.000 in den ersten zehn Monate des Jahres registrierten illegalen Einreisen in die EU sei über die sogenannte Balkanroute erfolgt.

Neben den rund 5200 Menschen, die sich derzeit offiziell in Serbiens völlig überfüllten Auffanglagern aufhalten, biwakieren im Grenzgebiet zu Ungarn bis zu 3000 Menschen in Privatquartieren, verlassenen Ruinen oder unter freiem Himmel.

Zu den Zahlen von Frontex – oder doch zum Alarm, den sie in der EU auslösen – kommt allerdings Widerspruch aus der Wissenschaft. In einer Stellungnahme von November macht der Osnabrücker Migrationsforscher Franck Düvell, der die aktuellen Bewegungen Richtung EU eng verfolgt, darauf aufmerksam, dass die EU-Grenzschutzbehörde Versuche zählt, nicht Menschen: „Da einzelne Personen in der Regel mehrere Versuche unternehmen, besteht die Anzahl der Personen nur aus einem Bruchteil der Versuche.“

Nehme man die Frontex-Zahlen für Einreiseversuche aus der Türkei Richtung Balkan und rechne sie für 2022 hoch, komme man auf 38.000 solcher Versuche. Aber selbst im Jahr vor der großen Fluchtbewegung 2015, wurden 50.800 Versuche gezählt, „also deutlich mehr“, heißt es in Düvells Studie.

„Im Ausnahmejahr 2015 waren es dagegen 885.386 Versuche“, so Düvell, was bedeutet, dass 2022 nur ein Sechstel der Versuche von 2015 stattfinden werden. Dass die Grenzübertrittversuche aus Nichtbalkanstaaten in die EU deutlich stiegen, sei kein Zeichen für neue Fluchtbewegungen.

Die Menschen seien schon länger in den balkanischen Nicht-EU-Ländern. Die Pandemie habe sie aufgehalten, jetzt versuchten sie, weiterzuziehen. Viele von ihnen verließen auch Griechenland, das die Bedingugnen für Flüchtlinge noch ein weiteres Mal verschlechtert habe.

Türkei schiebt ab, Taliban treiben in die Flucht

Milica Svabic von der Hilfsorganisation klikAktiv in Belgrad macht auch auf die Rolle der Türkei aufmerksam: Sie habe begonnen, Flüchtlinge nach Syrien abzuschieben oder ihre Aufenthaltsgenehmigungen nicht mehr zu verlängern: „Viele Syrer, die in den letzten Jahren in der Türkei lebten, machen sich nach Westen auf.“

Viele Syrer, die in den letzten Jahren in der Türkei lebten, machen sich nach Westen auf.

Milica Svabic, Hilfsorganisation klikAktiv Belgrad

70 Prozent der Flüchtlinge, die durch Serbien ziehen, stammten aus Syrien und Afghanistan – die vermehrten Bewegungen auf der Balkanroute seien auch Spätfolge der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan. „Von hier versuchen die meisten über Ungarn nach Westen zu kommen“, sagt Svabic.

Mit den „besonders stark entwickelten“ Schleppernetzwerken in Serbien und Ungarn erklärt die Anwältin, dass die Hauptroute seit Sommer letzten Jahres erneut über das Land mit den höchsten Stacheldrahtzäunen verläuft.

„Logisch ist die Passage über Ungarn keineswegs“, sagt Svabic. „Aber die Schlepper führen die Leute gezielt an die ungarische Grenze. Die Leute gelangen mit Leitern auf die Zäune, verletzen sich aber häufig beim Sprung nach unten. Mit gebrochenen Beinen werden sie schon am Zaun gefasst und abgedrängt.“

Ungarische Soldaten errichten in Röszke an der Grenze zwischen Serbien und Ungarn einen Zaun. (Archivbild von 2015)
Ungarische Soldaten errichten in Röszke an der Grenze zwischen Serbien und Ungarn einen Zaun. (Archivbild von 2015)

© dpa/MTI/Balazs Mohai

Je stärker der Andrang, „desto größer die Gewalt“, so die Erfahrung von Svabic. Aber selbst wenn aufgegriffene Transitmigranten in Lager in Südserbien deportiert werden, reisen sie umgehend wieder nach Norden – und versuchen erneut die Passage über Ungarns Stacheldrahtgrenze.

Vor allem Minderjährige sind starker Ausbeutung und Gewalt ausgesetzt.

Tanja Ristic, Hilfsorganisation Save the children

Vor allem alleinreisende Kinder und Minderjährige seien auf der Balkanroute „sehr starker Ausbeutung und Gewalt“ ausgesetzt, berichtet Tanja Ristic von der Kinderhilfsorganisation „Save the children“ in Belgrad. Auch durch die Polizei erlitten sie Gewalt: „Kinder, die ohne Familien unterwegs sind, haben niemanden, auf die sich stützen können.“

Bei den Jugendlichen aus Afghanistan handle es sich meist um Minderjährige ab 15 Jahren, sagt Svabic: „Bei den Syrern sind oft Kinder von zwölf Jahren und jünger allein unterwegs.“ Die Eltern hielten es für den sichersten Weg, den ältesten Sohn mit zwölf Jahren auf die Reise zu schicken.

„Sie glauben, dass er in Deutschland automatisch Papiere und Asyl erhält – und der Rest der Familie nachkommen kann. Was so nicht stimmt.“ Ihre Organisation versuche in den Herkunftsländern aufzuklären, sagt Ristic: „Aber oft ist ihre Verzweiflung so groß, dass sie ihre Kinder trotz des Wissens um die Risiken auf die Reise schicken.“

Im Schnitt seien die von ihr befragten Jugendlichen bereits vier Jahre unterwegs, so Ristic: „Das sind vier verlorene Jahre mit traumatischen, sehr prägenden Gewalterfahrungen, ohne Unterstützung, ohne Gelegenheit, sich zu entwickeln. Die große Frage ist, welche Folgen das später haben wird.“

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