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Nanterre trägt deutliche Spuren der durch Polizeigewalt ausgelösten Unruhen.

© Reuters/Yves Herman

Jugend gegen Staat und Polizei: Nanterre – das Epizentrum der Wut

Eine Woche nach dem Tod eines 17-Jährigen bei einer Polizeikontrolle sind die Spuren der Zerstörungstouren überall in der Stadt zu sehen. Muss der Staat härter durchgreifen?

Nahel ist nicht mehr da, aber er bleibt allgegenwärtig in seiner Stadt Nanterre. „Revolte für Nahel“ hat jemand in schwarzen Lettern auf eine große, weiße Werbefläche neben dem Eingang einer S-Bahn geschrieben.

„Gerechtigkeit für Nahel“ steht auf etlichen Häuserwänden und städtischen Kunstwerken, sogar das Mahnmal für die im Zweiten Weltkrieg Deportierten, ein halbrundes Kunstwerk aus Beton zwischen Bäumen, wurde besprüht. „Ohne Video wäre Nahel eine Statistik für das Innenministerium“, ist dort unter anderem zu lesen.

Auch eine Woche nach dem Tod des 17-jährigen Nahel M. bei einer Verkehrskontrolle in der Stadt im Nordwesten von Paris kommt Frankreich nicht zur Ruhe. Eine Passantin filmte die Szene, in der zwei Motorrad-Polizisten seitlich an Nahels Wagen standen, einer der Beamten seine Waffe auf ihn richtete und schoss, als das Auto losrollte.

Ich habe den Krieg erlebt, aber das war anders, wir hatten damals Hoffnung.

Colette, 89-jährige Einwohnerin von Nanterre

Das Video löst eine Debatte um unangemessene Polizeigewalt los, aber es löste auch eine Welle der Gewalt aus. Jede Nacht werden etliche Städte und Vororte von Unruhen erschüttert. Gruppen von Jugendlichen, manche gerade einmal 13 oder 14 Jahre alt, zünden Autos und Gebäude an, schlagen Vitrinen ein, plündern Geschäfte.

Auch in Nanterre, dem Epizentrum der Wut, sind die Spuren dieser brutalen nächtlichen Streifzüge sichtbar. Verkohlte Autos stehen an den Straßenrändern, Glassplitter bedecken die Fahrbahnen. Die Eingänge mancher Cafés und Geschäfte sind mit Holzpaletten verbarrikadiert.

Erschüttert blicken Passanten im Park André Malraux auf das Kinderkarussell, das völlig ausgebrannt ist. „Das geht zu weit“, murmelt eine Frau, die ein Kopftuch trägt und mit ihrem Einkaufs-Trolley vorbeigeht. „Mir tut Nahel leid, für seine Mutter muss es furchtbar sein, er war ihr einziges Kind! Aber die Lösung ist doch nicht, alles niederzubrennen.“

Ohne Video wäre Nahel eine Statistik für das Innenministerium.

Graffito auf dem Mahnmal für die im Deportierten des Zweiten Weltkriegs in Nanterre

Zwei Sozialzentren, darunter ein früher von Nahel und seiner Mutter besuchtes, wurden zerstört, zwei Schulen beschädigt.

Tagsüber ist es ruhig in der Stadt, die unmittelbar an das Pariser Geschäfts- und Bankenviertel La Défense angrenzt. Polizeiwagen fahren Streife. Die Menschen suchen das Gespräch, wie um nicht alleine zu bleiben mit ihren Sorgen darüber, was im ganzen Land los ist.

„Mir hat die Polizei schon oft geholfen“, sagt die gebürtige Libanesin Hoda Altamar, die ihren Hund ausführt. „Ein einziger Mann ist verantwortlich für den Tod von Nahel, aber man kann doch nicht von ihm auf alle schließen.“

Uneinigkeit zwischen den Generationen

Jede Nacht habe sie Angst. Ihr 23 Jahre alter Sohn treffe sich abends mit Freunden, ziehe herum, er habe ihr versprochen, nichts anzustellen. „Aber ich schlafe nicht, solange er draußen unterwegs ist.“ Wann und wie sich all das beruhigen soll? Keiner weiß es, auch wenn die letzten beiden Nächte ruhiger verliefen, es zu weniger heftigen Ausschreitungen gab, die Zahl der Festgenommenen zurückging.

17
Jahre alt war Nahel M., als er durch eine Polizeikugel bei einer Verkehrskontrolle starb.

Staatspräsident Emmanuel Macron rief am Freitag nach einer Krisensitzung die Eltern auf, ihrer „Pflicht zur Verantwortung“ nachzukommen. Sie sollten ihre Kinder abends nicht aus dem Haus lassen. Ein Drittel der Festgenommenen sei minderjährig.

Justizminister Eric Dupond-Moretti bemühte sich, wie Macron einerseits Verständnis für die Emotionen angesichts von Nahel M.s gewaltsamen Tod zu äußern, aber zugleich Grenzen aufzuzeigen: „Ein Geschäft zu plündern hat mit diesen Emotionen nichts zu tun.“

Die Gewalt schwächt die Einigkeit, die wir brauchen, um die Einsatzbedingungen der Polizei zu überdenken und mehr soziale Gerechtigkeit zu erreichen.

Patrick Jarry, Bürgermeister von Nanterre

Der Staat müsse härter durchgreifen, findet ein junger Mann auf dem Weg zur Arbeit. Er ist bei einer Bank beschäftigt, doch seine S-Bahn fährt nicht. „Andere Städte haben Ausgangssperren eingeführt, warum nicht Nanterre? Wir brauchen mehr Autorität, damit wir hier wieder normal leben können.“

Ihr Enkel Nahel werde zum Vorwand für die Gewalt, sagte Nadia, die Großmutter des Getöteten, nun gegenüber dem Fernsehsender BFMTV. „Hört auf damit, hört auf“, appellierte sie an die Verantwortlichen. „Die Busse, die Schulen, die Autos haben euch nichts getan. Es sind eure Mütter, die diese Busse nehmen, sonst müssen sie zu Fuß gehen.“

Auch der Bürgermeister, Patrick Jarry, rief von Anfang an zur Ruhe und zum Respekt auf. „Die Gewalt schwächt die Einigkeit, die wir brauchen, um die Einsatzbedingungen der Polizei zu überdenken und mehr soziale Gerechtigkeit zu erreichen“, sagte er in einem Interview mit der Zeitung „Le Monde“. Jene öffentlichen Einrichtungen zu zerstören, welche gerade den Ärmsten zugute kommen, mache keinen Sinn.

Nanterre tue viel für die jungen Leute, versichert die 89-jährige Colette, die seit ihrem dritten Lebensjahr hier wohnt. Besorgt blickt sie auf die zerschlagenen Vitrinen einer Immobilienagentur, in deren Inneren die Aufräumarbeiten begonnen haben.

Für sie sei die Gewalt unbegreiflich, sagt die Seniorin. Sie mache sich Sorgen um die neuen Generationen. „Ich habe den Krieg erlebt, aber das war anders, wir hatten damals Hoffnung.“ Davon erkenne sie momentan sehr wenig.

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