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Michela Murgia 2022 auf dem Literaturfestival in Mantua.

© imago/Independent Photo Agency Int./IMAGO/Alessio Tarpini / ipa-agency.net

Für die Frauen und für die Demokratie: Zum Tod von Michela Murgia

Im Alter von 51 Jahren ist die italienische Romanautorin, Satirikerin und Feministin Michela Murgia gestorben. Ein Nachruf.

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Ein heillos fehlerhaftes Regierungssystem sei sie, zeitraubend, teuer, immer auf Krawall gebürstet, und nie lasse sie ihren gewählten Regierenden die nötige Beinfreiheit und Zeit bis zur nächsten lästigen Wahl: Die Demokratie sei „schlicht und einfach die schlechteste Regierungsform“, die es gebe.

Mit dieser Tirade beginnt Michela Murgias fulminante Polemik „Faschist werden. Eine Anleitung“, die 2019 auch auf deutsch erschien. Murgias bitterer Sarkasmus galt der Ausbreitung der extremen Rechten, ihre Beispiele bezog sie aus der italienischen Heimat, aber sie wiesen weit darüber hinaus. Inzwischen regieren Rechtsextreme von Skandinavien bis Italien.

Demokratie ohne Gedächtnis

Murgias Feststellung, dass 70, 80 Jahre eben viel seien fürs politische Gedächtnis, konnte auch ein deutsches Publikum schauern lassen: In so viel Zeit sei einer Demokratie „ein Großteil ihres historischen Gedächtnisses abhandengekommen“, und sie werde „ausreichend ausgezehrt und korrumpiert sein, um nach und nach immer gewichtigere prinzipielle Kompromisse mit anderen Regierungsformen einzugehen“.

Der schmale Band war eine erneute Probe von Murgias polemischem Genie. Sie hatte es zuvor in einem Blog bewiesen, aus dem der „tragikomische Roman“, so der Untertitel „Camilla im Callcenterland“ hervorging. Darin verarbeitete Murgia, die 1972 auf Sardinien geboren wurde, ihre eigenen Erfahrungen mit ungesicherten Gelegenheitsjobs im Telemarketing.

Der konservative „Corriere della sera“ lobte Murgia dafür als eine der ersten, die in Italien dem Schicksal ungesichert und schlecht bezahlter Beschäftigter eine Stimme gegeben habe, besonders dem von Frauen. 2008 drehte Paolo Virzì nach ihrem Roman den Film „Tutta la vita davanti“.

Patriarchat im Pressespiegel

Es war nicht das einzige Feld von Murgias Engagement. Auch Italiens Frauenbewegung profitierte von ihrem Talent für scharfe Satire. Unter dem Hashtag #tuttimaschi, „alles Männer“ spießte sie das fast komplette Fehlen mächtiger Frauen in Italiens Öffentlichkeit auf, dokumentierte sexistische Formulierungen in den Medien und kommentierte sie mit ansteckender Spottlust.

Als Schriftstellerin lieferte sie Gegenentwürfe zu männlicher Allmacht: Ihr bekanntester und preisgekrönter Roman „Accabadora“ von 2009 schildert einen Kosmos von Frauen in ihrer Heimat Sardinien. In „Ave Mary“ von 2011 kritisiert sie die Rolle von Frauen im Katholizismus. Murgia war studierte katholische Theologin, früh in der Laienbewegung Azione cattolica engagiert und arbeitete mehrere Jahre als Religionslehrerin.

Und sie lebte und verteidigte im immer noch konservativen Italien ihr Gegenleben, teilte sich ein Haus mit vier „Seelenkindern“ und ihrer queeren Familie und trat immer wieder öffentlich streitend für queere Rechte ein. Murgia, die zuletzt im römischen Ausgehviertel Trastevere lebte, war, so der „Corriere della sera“, „eine der einflussreichsten neuen Stimmen der zeitgenössischen italienischen Literatur“. Am Donnerstag ist sie in Rom an Nierenkrebs gestorben.

Das Leben mit der Krankheit hat sie auch in ihrem letzten Buch „Tre ciotole“ („Drei Schalen“) bearbeitet, das im Januar auf Deutsch erscheint, wie der Berliner Wagenbach-Verlag am Freitag mitteilte.

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