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Himmelsstürmer: Currentzis und Geiger Barnabás Kelemen spielen Brahms’ Violinkonzert.

© Utopia Press Office

Ohne jeden Zweifel ein Drama: Teodor Currentzis dirigiert das „Utopia“-Orchester

Ein spektakulärer Abend in der Philharmonie: Teodor Currentzis spielt mit seinem Projektorchester „Utopia“ Brahms und Tschaikowsky.

Dieses Konzert kann man kaum anders bezeichnen als spektakulär. Am Ende eines langen Abends entlädt sich Jubel in der Philharmonie, und auch der einsame Buhrufer ist nach der Zugabe verstummt. Gut möglich, dass er sich gar nicht gegen die erschütternd dramatische Tschaikowsky-Interpretation von Teodor Currentzis gerichtet hat, sondern seinem Unmut darüber Ausdruck verleihen wollte, dass der Dirigent beharrlich zu dem schweigt, was die Welt von ihm verlangt: in klaren Worten Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine zu verurteilen.

Mit diesem Konzert verdichtet sich der Eindruck, Currentzis arbeite mit Hochdruck an einer Antwort, mit dem Mittel, das er als das wirkungsvollste ansieht: die Musik. In seinem Projektorchester „Utopia“ versammelt er 107 Musiker:innen aus 32 Ländern. Geprobt wurde das Programm mit Brahms und Tschaikowsky im Funkhaus Berlin, danach geht es auf Tournee nach Ungarn, Belgien, Italien. „Utopia“ versteht sich als euphorische Gemeinschaft, die Grenzen überwinden will.

Mit Brahms‘ Violinkonzert sucht sich Currentzis dafür ein Stück aus der Mitte des Repertoires aus. Sein Orchester musiziert entgegen der sonst gepflegten Praxis zunächst im Sitzen, doch davon darf man sich nicht täuschen lassen. „Utopia“ spielt auf dem Sprung und zugleich mit Zartheit. Mit einem Riesenorchester einen leisen Gesang zu formen, der von innen zu leuchten scheint, darauf verwendet Currentzis größte Aufmerksamkeit. Er will einen besonderen Klang finden, einen Klang, der Antwort sein kann auf brennende Fragen.

Tschaikowsky im Stehen

Im ungarischen Geiger Barnabás Kelemen findet er einen Geistesverwandten, der unerschrocken die musikalische Übermacht zum Tanzen bringt. Vergessen ist das Bonmot, Brahms habe sein Violinkonzert eigentlich gegen den Solisten geschrieben. Hier wachsen alle über sich hinaus, lang ist die Reihe wunderbarer Entdeckungen, ihre Vehemenz drückt einen zwischenzeitlich in den Sessel und mancher Kraftausbruch schießt ins Kraut. Dann wieder schmiegt sich Kelemen ins Orchester und reißt es mit zu einer Leichtsinnigkeit, in der wahrer Ernst steckt.

Nach der Pause steht „Utopia“ bei Tschaikowskys Fünfter an den Pulten und Kelemen übernimmt mit der gleichen Verve die Rolle des Konzertmeisters. Currentzis beschwört einen gehauchten Beginn, die Steigerungen sind immens und berühren Grenzen. Das Individuum geht hier genauso gnadenlos unter wie in der Interpretation von Kirill Petrenko und den Philharmonikern, nur wilder, entfesselter.

Die Pauken löschen alle Lebensmelodien, das Orchester wogt weiter in klangloser Motorik. Starke Eindrücke, auf die Currentzis Tschaikowskys „Pas de deux“ folgen lässt, komponiert drei Wochen vor dessen Selbstmord. Keine Ballettpetitesse, sondern unüberhörbar: ein Drama.

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