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Ausstellung „Flesh and Bones“ in der Zitadelle Spandau. Zu sehen ist die Skulptur „Rosie“ von 2007 und im Hintergrund Fotografie von Jürgen Baumann.

© Zentrum für Aktuelle Kunst/Jürgen Baumann

Tricksen und Täuschen: Wie die Kunst zu anderen Einsichten gelangt

Zwei Ausstellungen im Zentrum für Aktuelle Kunst in Spandau untersuchen den menschlichen Körper und eigenwillige Phänomene des Alltags.

Es ist der Stoff für Albträume. Die Künstlerin Birgit Dieker verwendet gebrauchte Kleidung, die sie zu Ballen presst, um daraus lebensgroße Skulpturen zu schneidern. Ihre Klingen dringen tief in die Schichten, das Bild einer Verletzung stellt sich unmittelbar ein. Obwohl oder vielleicht auch weil es sich um ein Material handelt, das bis zu seiner Entsorgung eng mit dem menschlichen Körper verbunden ist.

„Flesh and Bones“ heißt passend Diekers Ausstellung im Zentrum für Aktuelle Kunst (ZAK) in der Spandauer Zitadelle. Gemeinsam mit dem Fotografen Jürgen Baumann lotet sie das ambivalente Verhältnis zwischen uns und dem eigenen Innern aus.

Das geht unter die Haut – im Wortsinn und sorgt für seltsame Gefühle. Dieker formt Zungen und Zähne überdimensional nach, sie stapelt altes Porzellan und formt daraus ein Becken mit Wirbelsäule. Der meist weibliche Körper wird angeschaut, drapiert und fragmentiert. Fleischfarbene Dessous legen ein Konglomerat von Brüsten nahe. Dabei besteht die „Matrone“ (2018) aus reinem Füllstoff.

Seltsame Gefühle stellen sich ein

Die Skulpturen der Berliner Künstlerin, die vergangenes Jahr eine große Soloschau im Museum in Goslar hatte, appellieren an die Fantasie. Bloß mit Erotik, die bei Baumanns fotografischen Deformationen von Genitalien, roten Mündern und Körperöffnungen durchaus eine Rolle spielt, haben sie wenig zu tun. Eher geht es um die Rollenbilder und -erwartungen, die dem Körper übergestülpt werden.

„All her Colours“, eine über zwei Meter hohe Gestalt, ist so etwas wie das Gegenprogramm: Eine Plastik, die Schicht für Schicht immer neue Farben freilegt und aus sich selbst heraus existiert. Unten scheint sie fest im Boden zu wurzeln, oben gibt Dieker ihr die Silhouette einer Madonna mit offenen Armen. Ein assoziatives Bild mit gespenstischer Note, weil Diekers Arbeiten bei aller Faszination auch immer zum Weglaufen sind – als ließen sie einen ein bisschen zu tief in menschliche Existenz und deren Abgründe sehen.

Faszination und Abwehr

Die zweite große Ausstellung im ZAK sorgt für emotionalen Ausgleich. „Boosted Mimikry“ bietet in den spektakulären Räumen der kommunalen Galerie drei ebenfalls in Berlin lebende Künstlerinnen und Künstler auf, deren Werke tricksen und täuschen. So wie Tom Früchtl.

Virtuos zeichnet er die Furniere gebrauchter Spanplatten nach oder die Falten abgehalfterter Kartons. Eine aufwändige Mimese, die völlig abstrus erscheint. Bis man sich die Oberflächen seiner zu Bildern oder Skulpturen erklärten Fundstücke genauer anschaut. Dann wird klar, dass Früchtls künstlerische Überschreibung der Wirklichkeit eine Herausforderung für die Sinne ist. Die subtilen Nachzeichnungen irritieren, stellen die Wahrnehmung in Frage und zwingen ihre Betrachter zur Auflösung diverser Widersprüche. Seine „Glitter“-Bilder treiben das auf die Spitze: Die wie LEDs leuchtenden Punkte erweisen sich als von Früchtl geschickt platzierte Farbe, den Irrtum provoziert das Gehirn.

Eine Pfütze täuscht die Sinne

Sabine Groß wie auch Barbara Hindahl nutzen ähnliche Effekte, gelangen aber zu anderen Ergebnissen. Hindahl imaginiert Staub oder Farbklekse, wo sie tatsächlich mit feinen Fab- und Bleistiften zeichnet. Groß konstruiert Bühnenbilder, die wirken, als habe jemand seinen Speicher ausgeräumt und all das überflüssige Gepäck im ZAK aufgetürmt.

Tatsächlich ist „Vague Promises“ (2018) ein sorgfältig in Kunststoff gegossenes Arrangement, das Alltägliches imitiert. Ihre „Chromatographie“ sorgt für Ratlosigkeit: Eine dunkle Pfütze scheint sich um einen weißen Sockel zu sammeln, der Würfel selbst hat einen Teil der Farbe aufgesogen. Ein Unfall? Eher eine Strategie, um auf die unendlichen Erscheinungsformen konzeptueller Kunst zu verweisen. Die Pfütze ist fest, der Fleck gemalt, der Sockel leer. Hier wird nichts ausgestellt, sondern über Wirkung und Wirkmacht des eigenen Schaffens nachgedacht.

Alle drei tragen die Kunstbetrachtung in den Alltag, wo sie wiederum auf einen space trifft, der mit seinem grauen Boden und den reinweißen Wänden einen musealen Ort nahelegt. Ein Kurzschluss mit sehenswerten Folgen.

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