zum Hauptinhalt
Candida Höfer hat sich in ihrer Arbeit „Bibliotheca die Girolamini Napoli“ schon 2009 mit den Komplex von Büchern und Bildender Kunst beschäftigt.

© Candida Höfer, VG Bild-Kunst, Bonn 2023

Verrückt nach Büchern: Die Faszination für Wort und Papier

Die Ausstellung „Bibliomania“ in Bietigheim-Bissingen spürt der Leidenschaft für Bücher in der zeitgenössischen Kunst nach. Eine sehenswerte Reise.

Die Zahl der Buchkäufer in Deutschland sinkt kontinuierlich: In 2022 haben nur noch 25,8 Millionen Menschen hierzulande wenigstens ein Buch gekauft. Keine leichte Zeit für die Buchbranche, deren Umsatz angesichts globaler Krisen und Interessenschwund an Printmedien im Zeitalter von Digitalisierung, Kurznachrichten und Streaming zusehens weiter abnimmt. Eine bunte, abwechslungsreiche Ausstellung wie „Bibliomania – Das Buch in der Kunst“ kommt da gelegen. Sie ist bis zum 22. Oktober 2023 in der 1989 gegründeten Städtischen Galerie Bietigheim-Bissingen nahe Stuttgart zu sehen.

Buch und Kunst sind sich in langer Geschichte und Tradition verbunden. Das gilt besonders für die Gestaltung der äußeren Form von Büchern: ihrem Cover, der Typografie und den Illustrationen im Inneren. Die aktuelle Schau im Südwesten der Republik sucht einen eher ganzheitlichen Zugang aus der Perspektive und den Sehgewohnheiten unserer Gegenwart auf Gedrucktes zwischen zwei Buchdeckeln.

Bücher als Motiv und Material

Sie versammelt 34 zeitgenössische Künstlerinnen und Künstler aus aller Welt, darunter acht Frauen, die das Buch als Motiv, Thema oder Ausgangsmaterial für ihre Arbeiten wählten. In Gemälden und Grafiken, Objekten und Installationen spüren sie auf unterschiedliche, höchst originelle Weise der Faszination, Ausstrahlung und den sinnlich-haptischen Qualitäten von Büchern als jederzeit verfügbarem Reservoir von Zeit, Wissen und Kultur nach.

84 Werke werden in der Ausstellung präsentiert, darunter befinden sich auch mehrteilige Arbeiten wie die einhundert berührenden Aquarelle des Frankfurter Künstlers Hannes Möller. Die jüngste Künstlerin ist die Mittdreißigerin Katie Paterson aus Schottland. Aber auch der 1998 verstorbene Schweizer Objektkünstler Dieter Roth findet in den Räumlichkeiten seinen Platz.

Bibliotheken in der Kunst

Die Idee, Buch und Bibliothek als Thema in der zeitgenössischen Kunst zu präsentieren, geht auf die Galerie-Chefin Isabell Schenk-Weininger zurück. Die studierte Kunsthistorikerin erzählt, dass sie schon lange über ein solches Projekt nachgedacht habe. Als sie im vergangenen Jahr von der Bergisch-Gladbacher Ausstellung „Bibliomania“ im Museum Villa Zanders hörte, klinkte sie sich für ihr eigenes Haus ein.

Das „Stillleben 24/ II“, (2009, Öl auf Leinwand) von Ralph Fleck gibt den Blick auf eine Suhrkamp-Edition frei.
Das „Stillleben 24/ II“, (2009, Öl auf Leinwand) von Ralph Fleck gibt den Blick auf eine Suhrkamp-Edition frei.

© Ralph Fleck, VG Bildkunst, Bonn 2023

„Die Werkauswahl war sehr überzeugend“, erzählt sie, „zumal mit einer Reihe von Künstlerinnen und Künstlern, die ich selbst in eine solche Ausstellung einbezogen hätte. Zudem waren für mich bisher unbekannte, spannende Arbeiten dabei.“ Es kam zu einer Kooperation mit ihrer Kollegin Petra Oelschläger in Bergisch Gladbach. Die meisten Werke, die im Kunstmuseum Villa Zanders ausgestellt waren, sind nun auch in Bietigheim-Bissingen zu sehen.

Bücher sind Opfer und Täter zugleich.

 Isabell Schenk-Weininger, Galeristin

Ergänzt hat Schenk-Weininger die Präsentation allerdings mit einem weiteren Künstler und das sehr umfangreich. Mit Hannes Möller stand sie bereits seit 2011 in Kontakt. „Über mehr als zehn Jahre habe ich ihm versprochen, dass ich mal eine Ausstellung zum Thema Buch und Bibliothek machen werde. Seine ,Verlorene Bibliothek’ ist ein außergewöhnliches Projekt, das hervorragend in eine solche Ausstellung hineinpasst.“

Zerstörung und Verlust

Sie sieht darin das Pendant zum Konzept der Künstlerin Annette Kelm: „Während Kelm auf die nationalsozialistische Bücherverbrennung Bezug nimmt und erhaltene Exemplare der von den Nationalsozialisten verbrannten Bücher, etwa ‘Im Westen nichts Neues’, abfotografierte, sucht Möller die in verschiedenen Archiven und Bibliotheken verstreuten Handschriften einer ehemaligen Klosterbibliothek auf, um sie zu fotografieren und danach in Aquarell- und Gouachetechnik zu malen. Zerstörung und Verlust, aber auch Wiederfinden und Versammeln sind in beiden auf jeweils 100 Werke angelegten Serien höchst eindrucksvoll thematisiert.“

Die Künstlerin Georgia Russell hat für „Attachement“ („Noir et Pêche“) aus zerschnittenen Büchern eine Plastik geformt.
Die Künstlerin Georgia Russell hat für „Attachement“ („Noir et Pêche“) aus zerschnittenen Büchern eine Plastik geformt.

© Galerie Karsten Greve, Köln/Georgia Russell

Schenk-Weininger hebt noch ein weiteres Werk aus ihrer Ausstellung hervor, Hubertus Gojowczyks Installation „Mauerwerk“: „Weil es hier vor Ort bei uns neu entstanden ist.“ Anlässlich der Documenta 6 hatte der Künstler 1977 eine Tür zu einer mutmaßlichen Bibliothek in der Neuen Galerie Kassel mit Büchern vermauert. „Diese Idee griff er in Bergisch Gladbach wieder auf, und als ich das sah, wünschte ich mir ebensolches in Bietigheim.“

Eine Mauer aus Büchern

Der Haken war, dass sich in dem modernen, an eine alte Getreidescheune angebauten Ausstellungsgebäude keine einzige Tür befindet. So wurde alternativ ein runder Durchblick, ein Bullaugenfenster im zweiten Obergeschoss, mit Büchern zugemauert.

Das Ergebnis ist ästhetisch großartig geworden und dabei inhaltlich überaus hintersinnig. Schenk-Weininger: „Sind die Bücher doch Opfer und Täter zugleich. Sie selbst sind unbrauchbar gemacht, können nicht mehr gelesen werden, ihr Blick in eine andere Welt, den sie eigentlich der Leser*in bieten, ist unzugänglich. Zugleich versperren sie selbst als Mauer den einstigen Durchblick, den das Fenster geboten hat.“

In Erinnerung bleiben neben den erklärungsbedürftigen monumentalen Werken der Ausstellung nicht zuletzt auch viele der unterschiedlichen Einzelarbeiten zwischen Bedeutsamkeit und Trivialität, Ironie und Lust an Optik und Serie.

Ralph Fleck etwa revitalisiert in seinem rot-grün-gelben „Stillleben“ einer ausladenden Bücherwand bunte Druckerzeugnisse wie die Suhrkamp-Edition. Katharina Fritsch reiht zweihundert Blindbände in rotem Kunstleder in ihr „Bücherregal“. Georgia Russell schredderte für „Attachment“ ein Buch zu einem lockigen Kopf.

Cornelius Völkers Bild „Buchkanten“ (2019, Ölfarbe auf Leinwand).
Cornelius Völkers Bild „Buchkanten“ (2019, Ölfarbe auf Leinwand).

© Cornelius Völker, VG Bild-Kunst, Bonn 2023

Dieter Roth stopfte für seine „Literaturwürste“ zerkleinerte Bücher mit Wasser, Gelatine und Gewürzen als Brät in Häute. Dieter Helms faltete Telefonbuchseiten zu Baumstämmen. Curt Stenvert nötigte drei Exemplare von Packards „Die geheimen Verführer“ mit Schraubzwingen zum Dreierpack. Anne Berning plazierte Rücken an Rücken Kunstbücher mit ihren Titeln auf die Leinwand. Und Candida Höfer fotografierte menschenleer als Kathedrale des Wissens die Bibliotheca Girolamini Napoli.

Kunsst aus dem Baumarkt

Zeitgenössische Ausstellungen zu ungewöhnlichen Themen wie „Raw Materials“ mit Materialien aus dem Baumarkt oder „Out of Office“ mit Büro-Utensilien haben in Bietigheim Tradition. Sie sprechen nicht nur ausgewiesene Kunstliebhaber und -liebhaberinnen an. Sie erlauben generell, alltägliche Gegenstände anhand von Kunstwerken neu zu sehen und zu reflektieren. „Jeder kann an solche Themen aus der eigenen Erfahrung andocken“, erklärt Schenk-Weininger.

„Bibliomania“ ist ein wunderbares Beispiel hierfür. Selbst jene Menschen, die keine begeisterten Leser:innen seien, hätten im Alltag, so die Kuratorin, trotz fortschreitender Digitalisierung immer wieder ein Buch in der Hand, sei es Notizbuch, Tagebuch oder Reiseführer. Die Vielfalt künstlerischer Auseinandersetzungen lässt Bücher mit anderen Augen sehen. Möge die Darbietung auch ein Appetizer für den Besitz und das Leben mit ihnen sein.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false