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Hilfe zum Überleben. Ein Gazaner bei der Lebensmittelausgabe des UN-Hilfswerks.

© Mohammed Abed/AFP

Covid-19 und palästinensische Flüchtlinge: „Die Ansteckungsrate ist dramatisch“

Ein Gespräch mit dem Chef des UN-Hilfswerks für Palästinaflüchtlinge über stark ansteigende Infektionszahlen und die Sehnsucht nach Normalität.

Philippe Lazzarini leitet als Generalkommissar seit April das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge. Der 56-jährige Schweizer und Italiener war zuvor für die UN im Libanon tätig.

Herr Lazzarini, was haben Sie gedacht, als Ihnen die Aufgabe angetragen wurde, das UN-Hilfswerk für Palästinaflüchtlinge zu führen: Oh Gott, warum tue ich mir das an oder: eine tolle Herausforderung?
Als ich den Posten übernahm, war mir sehr wohl bewusst, worauf ich mich einlasse. Und in der Region arbeite ich schon seit Langem. Insofern konnte ich ermessen, was auf mich zukommt. Dazu gehören die schwierige finanzielle Ausstattung von UNRWA ebenso wie die hohen Erwartungen der Flüchtlinge an uns. Doch dass mich vor allem der Kampf gegen Covid beschäftigen würde, ahnte ich damals natürlich noch nicht. Erschwert wird unsere Arbeit nicht zuletzt dadurch, dass viele sie durch eine politische Brille betrachten.

Ihre Organisation sah sich zuletzt mit vielen Problemen und Vorwürfen konfrontiert. Zum Beispiel gab es Unregelmäßigkeiten an der Spitze des Managements; Amerika stoppte seine Zahlungen und forderte Reformen. Wie wollen Sie das Ansehen von UNRWA wieder verbessern?
Sie sprechen hier zwei unterschiedliche Dinge an. Zum einen den Rückzug der USA aus der Finanzierung der Organisation im Jahr 2018. Das war für uns ein Schock. Wir haben es dann aber geschafft, die Staatengemeinschaft zu mobilisieren. So konnten wir den Verlust zum Glück ausgleichen. Das war ein großartiger Ausdruck der Solidarität.

Und zum anderen?
Hatten wir in der Tat Probleme auf der Führungsebene. Da ging es um interne Entscheidungsprozesse. Wir haben deshalb personelle Veränderungen vorgenommen...

Ihr Vorgänger wurde abgelöst.

...und die Transparenz nochmals erhöht. All das hatte aber nichts mit irgendwelchen Unregelmäßigkeiten bei der Finanzierung unserer Arbeit zu tun. Zum Glück können wir uns jetzt wieder voll darauf konzentrieren, den 5,6 Millionen palästinensischen Flüchtlingen zu helfen.

[Die Zahl der Corona-Infektionen in der Hauptstadt steigen rasant: Verfolgen Sie hier die Entwicklungen im Corona-Blog für Berlin.]

Welche Prioritäten setzen Sie dabei?
Neben einer möglichst gesicherten finanziellen Ausstattung von UNRWA geht es mir vor allem um den Kampf gegen die Pandemie. Die Ausbreitung des Coronavirus’ wirkt sich auf vielen Ebenen aus.

Zum Beispiel?
Denken Sie nur an die mehr als 700 Schulen, die UNRWA betreibt. Wir müssen jetzt sicherstellen, dass die Kinder digital unterrichtet werden. Oder dass die Menschen zumeist in völlig übervölkerten, verarmten Regionen leben, wo soziale Distanzierung und die Einhaltung von Hygieneregeln im Grunde unmöglich sind. Die Leute fragen: Wie soll ich mich an Kontaktbeschränkungen halten, wenn meine Kinder Essen brauchen? Und wir müssen unter diesen erschwerten Bedingungen die Palästinenser versorgen – mit vernünftiger Bildung und all den Dingen, die fürs Überleben wichtig sind.

Erst testen, dann Unterricht. In Gaza wird zwar ab und an auch analog unterrichtet, aber viel muss über E-Learning funktionieren.

© Mohammed Salem/Reuters

Wie hart trifft Covid die Palästinenser?
Sehr hart! Wir haben es inzwischen mit 10.000 Infizierten zu tun. Die Ansteckungsrate ist dramatisch, ja, sie explodiert geradezu. Das betrifft vor allem das Westjordanland und Ost-Jerusalem. Das spiegelt die Situation in Israel. Denn dort ist Covid de facto außer Kontrolle geraten. Ähnliches gilt für den Libanon und Gaza. Gerade im Küstenstreifen wirkt sich das fatal aus. Denn dort gibt es kein ausreichendes Gesundheitssystem.

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Und nicht zu vergessen: Gaza leidet seit der Machtübernahme durch die Hamas im Jahr 2007 unter einer Blockade. Die Versorgungslage ist also ohnehin sehr, sehr schwierig. Fast zwei Millionen Menschen leben dort – und fast alle sind auf tägliche Hilfe angewiesen. Dabei geht es in erster Linie um Lebensmittel, die UNRWA zur Verfügung stellt. Ganz abgesehen davon, dass wir der zweitwichtigste Arbeitgeber sind.

Philippe Lazzarini leitet seit einigen Monaten das UN-Hilfswerk für Palästinaflüchtlinge.

© imago/Pacific Press Agency

Denken die Gazaner verstärkt darüber nach, ihre Heimat zu verlassen, womöglich in Richtung Europa?
Die Menschen sind verzweifelt, haben die Hoffnung verloren, dass sich etwas zum Besseren wenden könnte. Gerade die Jugend sieht keine Perspektive für sich und sehnt sich nach einem normalen Leben. Diese Art Verzweiflung gibt es übrigens auch in libanesischen Lagern und Dörfern. Als Flüchtlinge fühlen sich die Palästinenser vielerorts diskriminiert.

Wie kann UNRWA den Menschen Hoffnung geben?
Indem wir ihnen Bildung ermöglichen! 500.000 Schüler werden heute von unseren Lehrern unterrichtet. Deshalb ist es so wichtig, dass wir finanziell in der Lage sind, staatsähnliche Leistungen zu erbringen. UNRWA versucht, den Palästinensern ein würdevolles Leben zu ermöglichen. Gelingt dies nicht, steht die Stabilität in der Region auf dem Spiel. Letztendlich geht es also um einen Beitrag zum friedlichen Miteinander.

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Warum glaubt Donald Trump nicht, dass Ihre Organisation das leisten kann?
Das müssen Sie den US-Präsidenten fragen. Die Geldgeber , die uns nach wie vor unterstützen – dazu gehört auch dankenswerterweise Deutschland – vertrauen uns und unserer Arbeit. Denn sie ist ein wesentlicher Beitrag für die Entwicklung der Region.

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Und was ist mit den reichen Golfstaaten? Tun die arabischen Monarchien genug, um die Palästinenser zu unterstützen?
Sie spielen eine wichtige Rolle. Als sich die USA aus der Finanzierung von UNRWA zurückzogen, haben die Golfstaaten geholfen, die Lücke zu schließen. Ich setze darauf, dass es bei diesem Engagement bleibt.

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