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So wurden Erdogan und Trump auf dem Karneval in Mainz präsentiert.

© Ralph Orlowski, Reuters

Türkei und USA: Erdogan und Trump - ganz allein gegen den "tiefen Staat"

Der türkische und der amerikanische Präsident: Das sind Brüder im Geiste, gewählte Autokraten, cäsaristische Demokraten. Sie fühlen sich von Feinden umzingelt, haben eine Mission. Ein Essay.

Ein Essay von Malte Lehming

Narrenmund tut Wahrheit kund. Zwei Personen dominierten die Festumzüge am Rosenmontag. Es waren die beiden aktuellen Buhmänner des deutschen Gemüts, Recep Tayyip Erdogan und Donald Trump. Der Spott, der sich über sie ergoss, schüttete allerdings auch eine ernste Frage zu: Hat der eine, Erdogan, in seinem Land bereits hinter sich, was der andere, Trump, noch vor sich hat? Taugt Erdogan als Menetekel für Trump? Einige Parallelen lassen Düsteres ahnen. Doch zunächst der Reihe nach.

Es war einmal ein Mann, der es allen zeigen wollte – der Elite, dem Establishment, dem Apparat. Von Ehrgeiz und Misstrauen getrieben wollte er mächtiger sein als sie, das Netzwerk seiner Gegner ein für allemal zerschneiden. Zunächst wehrten sie sich und warfen ihn ins Gefängnis, doch dann gelang Erdogan ein demokratischer Coup. Im Jahre 2002 errang seine erst kurz zuvor gegründete konservativ-islamische „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ (AKP) die absolute Mehrheit der Sitze im türkischen Parlament.

Dennoch konnte der frühere Bürgermeister von Istanbul zunächst nicht Ministerpräsident werden. Denn neben der Gefängnisstrafe war ihm 1998 wegen des öffentlichen Zitierens eines verstörenden Satzes die Kandidatur fürs Parlament auf Lebenszeit verboten worden. Der Satz lautete: „Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind. Die Minarette sind unsere Bajonette, die Moscheen unsere Kasernen.“ War das eine programmatische Drohung?

Zunächst also wurde Erdogans Stellvertreter zum Ministerpräsidenten gewählt, bis er schließlich selbst das Amt – nach einer Verfassungsänderung und seiner Nachwahl – am 11. März 2003 übernehmen konnte. Seitdem regiert Erdogan in der Türkei, die Türkei und über die Türkei. Als letzten Schritt auf dem Weg zur präsidialen Alleinherrschaft soll demnächst das Volk in einem Referendum über eine Verfassungsänderung abstimmen. Das wäre dann die Krönung.

Eine Säuberungswelle, die bis heute anhält

Im März 2012 erschien im amerikanischen Magazin „The New Yorker“ ein langer Artikel, der den Aufstieg Erdogans nachzeichnet. Die Überschrift lautet „The Deep State“, auf Türkisch „derin devlet“. Mit diesem Begriff ist eine im Wesentlichen aus Militärkräften bestehende Allianz gemeint, die jahrzehntelang und zum Teil mit brutaler Gewalt Dissidenten, Islamisten, Kurden, Kommunisten, Journalisten und christliche Missionare verfolgte und ermordete. Jeder, der die 1923 von Mustafa Kemal Atatürk begründete säkulare Ordnung in Frage stellte oder gar bedrohte, geriet ins Visier dieses „Tiefen Staates“. Viermal putschte das Militär seit den sechziger Jahren gegen die Regierung. Tausende wurden umgebracht.

Zu den großen politischen Leistungen Erdogans gehört es, die Strukturen des „derin devlet“, der auch ihn mit Argusaugen beobachtet hatte, weitgehend zerschlagen zu haben. In allen Bereichen, in denen Erdogan dessen Einfluss witterte, ließ er nach und nach mutmaßliche Drahtzieher verhaften und vor Gericht stellen, darunter Generäle, Parlamentsabgeordnete, Journalisten, Universitätsmitarbeiter. Zugespitzt formuliert könnte man von einer Säuberungswelle sprechen, die bis heute anhält.

Mitte Juli 2016 versuchten Teile des Militärs erneut zu putschen, mehr als 230 Menschen starben. Das entfachte Erdogans Furor erneut. Sein ohnehin stark ausgeprägtes Misstrauen schien berechtigt, sein Verfolgungswahn rational gewesen zu sein. In die große Allianz seiner Feinde schloss Erdogan diesmal die Anhänger des in den USA lebenden muslimischen Predigers Fethullah Gülen mit ein. Auch sie bildeten, in Erdogans Worten, einen „Parallelstaat“.

Mehr als 120.000 Menschen wurden seitdem entlassen, 4000 Richter und Staatsanwälte suspendiert, 7000 Akademiker gefeuert, 45.000 Menschen inhaftiert. Ähnlich wie in Russland unter Wladimir Putin kontrollieren Erdogan und die AKP inzwischen das staatliche Rundfunk- und Fernsehwesen und werden von einem beträchtlichen Teil der Presse unterstützt. Als unabhängige Kontrollinstanz wurde die vierte Gewalt praktisch nivelliert. Einem Bericht des Komitees zum Schutz von Journalisten zufolge waren bis zum 1. Dezember 2016 mindestens 81 Journalisten in der Türkei inhaftiert worden, weltweit seien es 259 gewesen. Andere Organisationen nennen weitaus höhere Zahlen.

Mit kurzen, prägnanten Sätzen erreicht er die Menschen

Wann immer Erdogan politisch unter Druck gerät, wendet er sich direkt an seine Anhänger. Er sei die Stimme derer, die sonst nicht gehört werden, sagt er. Mit kurzen, prägnanten Sätzen erreicht er die Menschen. Ein Volk, ein Tribun.

Die Parallelen zu Donald Trump stechen ins Auge. Auch der US-Präsident sieht sich von dunklen Mächten umzingelt. Da sind zuförderst die Medien, die „Fake News“ verbreiten, „Feinde des amerikanischen Volkes“ und auf „Hexenjagd“ seien. Vertreter von CNN, „New York Times“ und anderen werden inzwischen nach Gutdünken von Pressekonferenzen ausgeschlossen. Seine Teilnahme am traditionellen Dinner der Korrespondenten im Weißen Haus sagte Trump über Twitter ab.

Trump selbst hat die These vom „deep state“ bislang nicht selbst benutzt. Umso intensiver kursiert sie bei seinen Anhängern. Verbreitet wird sie von konservativ-reaktionären Publikationen wie „The New American“, der Nachrichtenseite „Breitbart“, deren Chef einst der heutige Oberstratege Trumps im Weißen Haus, Stephen Bannon, war, und dem ultrarechten Radio-Kommentator Rush Limbaugh. Der Theorie zufolge hat sich in den USA eine Art Schattenregierung etabliert, ein machtvolles Lobbyisten-Konglomerat aus Medien, Geheimdiensten, Diplomaten, der Wall Street, Silicon Valley, Teilen der Justiz. Diese Schattenregierung verteidigt skrupellos ihre Pfründe und mobbt jeden aus dem Amt, der sich ihr in den Weg stellt.

Ein angeblich geheimes Geflecht

Die Deep-State-These nimmt Anleihen beim „Militärisch-Industriellen Komplex“, vor dem schon US-Präsident Dwight D. Eisenhower warnte, aber auch bei eher linken Ideologien, wie sie von „Occupy Wall Street“, marxistisch beeinflussten Organisationen oder dem Internet-Transparenz-Advokaten Glenn Greenwald vertreten werden. Mike Lofgren, der 28 Jahre lang für die Republikaner im Kongress gearbeitet hatte, veröffentlichte im vergangenen Jahr das Buch „The Deep State: The Fall of the Constitution and the Rise of a Shadow Government“. Das die Essenz dieser Theorie. Zur selben Zeit erschien in Deutschland das Buch „Der tiefe Staat: Die Unterwanderung der Demokratie durch Geheimdienste, politische Komplizen und den rechten Mob“. Verfasst wurde es von Jürgen Roth. Es zielt, vor dem Hintergrund der NSU-Affäre, auf ein angeblich geheimes Geflecht zum Schutz rechtsextremer Verbindungen.

In Trumps Rhetorik und womöglich seiner Wahrnehmung fügen sich viele Ereignisse in ein solches Schema ein. Jedes Puzzle ergänzt das nächste, frei nach dem Motto: Ich leide nicht an Verfolgungswahn, sie sind wirklich hinter mir her. Einer gegen alle: So wurde er Präsident. Gegen die Demokraten, gegen große Teile der Republikaner, gegen Big Business, gegen die Medien, gegen Hollywood, gegen das „System“. Nun sitzt er im Weißen Haus – und das „System“ rächt sich.

Wie sieht diese Rache in Trumps Wahrnehmung aus? Geheimdienstler füttern Medien mit Aufzeichnungen abgehörter Telefonate, was zum Rücktritt seines gerade erst ernannten Sicherheitsberaters Michael Flynn führt. Dieselbe Koalition streut unablässig den Verdacht, er habe seinen Wahlsieg russischer Manipulation zu verdanken, sei eine Marionette Moskaus, gewissermaßen illegal im Amt. Richter blockieren sein Einreiseverbot für Menschen aus sieben überwiegend von Muslimen bewohnten Ländern. Knapp tausend Diplomaten unterschreiben ein Memorandum dagegen. Silicon-Valley-Mogule leisten ebenfalls Widerstand. Hollywood macht sich lustig über ihn. Teile des Militärs und der Republikaner wollen eine Annäherung an Putin verhindern. Trump muss sich fühlen wie Gary Cooper in „High Noon“. Dazu passt seine Verehrung von Ronald Reagan, dem anderen „großen Einsamen“.

Der „Lügenpresse“-Vorwurf soll gegen Kritik der „Lügenpresse“ immunisieren

Natürlich dient der Kampf gegen die Medien auch einem strategischen Ziel. Denn setzt sich das Narrativ erst fest, die Medien seien Trumps Feinde und verbreiteten „fake news“, um ihm zu schaden, kann jede weitere Enthüllung oder Kritik darunter subsumiert werden, ohne sich inhaltlich damit auseinandersetzen zu müssen. Der „Lügenpresse“-Vorwurf soll gegen Vorhaltungen der „Lügenpresse“ immunisieren. Joel Simon, der Geschäftsführer des „Committee to Protect Journalists“, hat Trumps Taktik unlängst in der „New York Times“ als „Flächenbombardement“ gegen die Medien bezeichnet.

Ob Trump selbst die Vorstellung teilt, Amerika werde von einer Schattenregierung beherrscht, ist unklar. Sein Chefeinflüsterer Bannon indes scheint von der Dichotomie aus bedingungslos loyalen Anhängern und illoyalen Feinden persönlich durchdrungen zu sein. Sein Ziel ist die spirituelle Erneuerung Amerikas durch Rückbesinnung auf das Christentum, die Wiederbelebung eines wertegebundenen Kapitalismus, der Sieg über den „islamischen Faschismus“ – und als Voraussetzung dafür die Zerschlagung des „Establishments“. „Trump ist für uns nur ein Instrument“, sagte Bannon im vergangenen Sommer der Zeitschrift „Vanity Fair“. Und weiter: „Ich weiß nicht, ob er das wirklich versteht oder nicht.“

Was verbindet Erdogan und Trump? Der Islam-Experte Patrick Cockburn hat die Parallelen dieser Männer in der britischen Zeitung „The Independent“ erschreckend genannt. Beide seien Populisten und Nationalisten, durch ähnliche Methoden an die Macht gekommen, dämonisierten ihre Gegner und sähen sich permanent von Verschwörern eingekreist. Cockburn erinnert an einen Essay des britischen Historikers Lewis Namier aus dem Jahr 1947, in dem die Typologie eines „cäsaristischen Demokraten“ beschrieben worden sei. Laut Lewis zeichne er sich dadurch aus, direkt zu den Massen zu reden, demagogische Slogans zu verwenden, die Justiz gering zu schätzen (sich aber trotzdem an Recht und Gesetz zu halten), Parteien, das parlamentarische System und die gebildete Klasse zu verachten, vage und widersprüchliche Versprechen abzugeben, Militarismus. Das alles treffe, bilanziert Cockburn, sowohl auf Erdogan als auch auf Trump zu.

Erdogan zahlt bereits einen hohen Preis für seine Politik

Dem widerspricht David A. Graham in „The Atlantic“. In Amerika gebe es keinen „deep state“, der annähernd mit der Türkei oder Ägypten vergleichbar sei. Dort hätte sich das Militär als Bastion des Säkularismus verstanden, sei über Leichen gegangen, hätte demokratisch gewählte Regierungen gestürzt. Etwas Vergleichbares sei in den USA unvorstellbar. Medien mit Geheimdienstinformationen zu füttern, möge unanständig, vielleicht sogar kriminell sein, sei aber grundsätzlich verschieden von Mord und Totschlag. Die Vorstellung, es gebe einen geheimen Plan mehrerer Institutionen zum Sturz von Trump, sei bizarr.

Das allerdings schließt nicht aus, dass Trump die Anti-Establishment-Propaganda übernimmt, um seine Macht zu festigen. Je mehr Amerikaner davon überzeugt sind, der Präsident stünde allein mächtigen Feinden gegenüber, desto nachsichtiger werden sie womöglich ihn und seine Politik bewerten. Für jedes Versagen kann er die Obstruktion der Bürokratie verantwortlich machen, für jeden Skandal dessen Aufbauschen durch die „Lügenpresse“. Wer die „Deep-State“-Theorie verbreitet, kann ein Volk leicht manipulieren.

Es ist unwahrscheinlich, dass Trump den Weg Erdogans gehen wird. Dafür sind die Türkei und Amerika zu verschieden, die „checks and balances“ in den USA zu stark verankert. Doch es ist möglich, dass Trump mit seinen Anleihen bei anderen „cäsaristischen Demokraten“ – oder „gewählten Autokraten“, der Blick geht auch nach Ungarn und Polen – und seinem Feldzug gegen das „System“ jene Parallelwelt erst schafft, vor der er seine Landsleute so eindringlich warnt. Wer sich Medien, Geheimdienste, Teile der Justiz und des Militärs sowie die akademische Elite bewusst zum Feind macht, darf sich nicht wundern, von dieser Gruppe wenig wohlwollend behandelt zu werden.

Erdogan zahlt bereits den Preis dafür. Je vehementer er seine mutmaßlichen Widersacher bekämpft, desto schneller wächst deren Kreis. Das wiederum steigert Erdogans Zorn. Kein anderes demokratisches Land wird inzwischen so oft und so folgenschwer vom Terror überzogen wie die Türkei. Auch wirtschaftlich befindet sich das Land im Niedergang. Die Lira hat in den vergangenen Monaten 30 Prozent ihres Wertes verloren, die Inflationsrate ist zweistellig.

„Make America Great Again“, fordert Trump. An Erdogan, seinem Bruder im Geiste, kann er studieren, wie es nicht geht.

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