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Russlands Präsident Wladimir Putin. Aufnahme von 2014.

© AFP/JOHN THYS

Konfrontation nach Giftanschlag: Wohin der Streit mit Russland führen kann

Nach der Ausweisung russischer Diplomaten aus westlichen Ländern dürfte Präsident Wladimir Putin reagieren. Die wichtigsten Fragen und Antworten.

In Europa und den USA müssen in dieser Woche mehr als 100 russische Diplomaten, die nach Erkenntnissen ihrer Gastländer für Geheimdienste arbeiten, ihre Koffer packen. In einer beispiellosen Aktion reagieren damit zahlreiche Staaten auf den Giftanschlag im britischen Salisbury. Dort waren am 4. März der russische Ex-Spion Sergej Skripal und seine Tochter Julia mit einem für militärische Zwecke entwickelten chemischen Kampfstoff vergiftet worden. Beide befinden sich noch im Krankenhaus, ihr Zustand gilt als kritisch. Das verwendete Nervengift stammt nach Angaben britischer Ermittler aus der Sowjetunion.

Was verbindet die Länder, die sich an der Aktion beteiligt haben?

Die zeitgleiche Ausweisung von russischen Botschaftsmitarbeitern in mehreren europäischen Ländern wurde von EU-Ratspräsident Donald Tusk verkündet. Beim EU-Gipfel in der vergangenen Woche hatten sich alle Mitgliedstaaten die britische Position zu eigen gemacht, wonach mit hoher Wahrscheinlichkeit Russland für den Anschlag verantwortlich ist. Sie sicherten Großbritannien ihre „uneingeschränkte Solidarität“ zu und verständigten sich darauf, das weitere Vorgehen untereinander abzustimmen. Doch als Tusk am Montagnachmittag die Ausweisung der Diplomaten verkündete, waren keineswegs alle EU-Staaten dabei.

Bis Dienstagnachmittag hatten mit Großbritannien 18 EU-Staaten russische Botschaftsmitarbeiter ausgewiesen. Zu den Unterstützern zählen neben Deutschland auch Frankreich, Italien und Spanien. Bemerkenswert ist auch, dass nach einer längeren Zeit der Meinungsverschiedenheiten in europäischen Fragen erstmals wieder Deutschland, Polen, Tschechien, die baltischen Staaten und sogar Ungarn Seite an Seite stehen. Dabei gilt die ungarische Regierung als eher kremlfreundlich.

Warum haben mehrere europäische Länder nicht mitgemacht?

Zehn EU-Staaten hatten bis Dienstagnachmittag keine russischen Diplomaten ausgewiesen, es galt aber als möglich, dass noch der eine oder andere nachzieht. Österreich hat einer Ausweisung von Diplomaten eine Absage erteilt: Außenministerin Karin Kneissl forderte am Dienstag eine „volle Aufklärung“ des Falls Skripal und machte zugleich klar, dass sich Österreich wahrscheinlich auch nicht beteiligen würde, wenn sich dabei Russlands Verantwortung herausstellte. Zugleich verwies sie auf die österreichische Neutralität – das Land ist nicht Mitglied der Nato – und betonte die Brückenfunktion ihres Landes. Die in Wien mitregierende rechtspopulistische FPÖ vertritt in der Russlandpolitik einen kremlfreundlichen Kurs, befürwortet eine Abschaffung der Sanktionen und schloss eine langfristige Partnerschaft mit der Regierungspartei „Einiges Russland“.

Auf der Seite der Gegner von Ausweisungen stehen mit Zypern und Malta zwei Länder, die außergewöhnlich stark von russischen Investitionen profitieren. Auch Slowenien zählt zu den grundsätzlichen Gegnern der Aktion. Bulgarien lehnte eine Beteiligung ab, weil das Land gerade die EU-Ratspräsidentschaft innehat, die Regierung rief jedoch ihren Botschafter zu Konsultationen zurück.

Was ist über russische Geheimdienstler an der Botschaft in Berlin bekannt?

Nach Angaben aus dem Auswärtigen Amt haben die vier aus Deutschland ausgewiesenen Diplomaten einen „geheimdienstlichen Hintergrund“. Sie waren offiziell als Mitarbeiter von Geheimdiensten bekannt. Die Gesamtzahl der Geheimdienstler an der Botschaft halten deutsche Sicherheitskreise allerdings für weit höher. „Mehrere Dutzend werden es wohl sein“, ist zu hören.

Und es sei davon auszugehen, dass zumindest die drei bedeutendsten Geheimdienste Russlands in der diplomatischen Vertretung präsent sind. Das sind der Auslandsgeheimdienst SWR, der Militärgeheimdienst GRU und der Inlandsgeheimdienst FSB. Die beiden letztgenannten Dienste sind nach Erkenntnissen der deutschen Sicherheitsbehörden die Strippenzieher bei Angriffen russischer Hackergruppen auf Ziele in Deutschland. Der GRU wird mit Cyberspionen in Verbindung gebracht, die unter den Namen „Sofacy Group“ und „Fancy Bear“ bekannt sind. Die deutschen Behörden markieren die Hackergruppe mit dem Terminus APT 28. Das ist die Abkürzung für Advanced Persistent Threat (fortgeschrittene andauernde Bedrohung).

Das Hackerkollektiv soll unter anderem für den Angriff auf den Bundestag im Frühjahr 2015 verantwortlich sein. Der FSB wird mit der Gruppe „Cozy Bear“ (APT 29) und mit der Hackerkampagne Uroburos in Verbindung gebracht. Uroburos war in das Datennetz der Bundesregierung eingedrungen und hatte sich ins Auswärtige Amt vorgearbeitet. Dieser Angriff spielte offenbar für die deutsche Entscheidung ebenfalls eine Rolle: „Der Schritt erfolgt auch vor dem Hintergrund der kürzlichen Cyber-Operation gegen das geschützte IT-System der Bundesregierung, die sich nach bisherigen Erkenntnissen mit hoher Wahrscheinlichkeit russischen Quellen zurechnen lässt“, sagte eine Sprecherin des Auswärtigen Amtes.

Wie viele russische Agenten in Deutschland aktiv seien, lasse sich kaum schätzen, sagen Sicherheitskreise. Zu vermuten sei ein beträchtliches Dunkelfeld. Die russischen Geheimdienste versteckten sich auch hinter Tarnadressen. Das könnten zum Beispiel Exportfirmen sein. Solche Aktivitäten sind allerdings keine russische Spezialität, sondern üblich.

Wie reagiert Russland auf die Ausweisungen?

Es ist davon auszugehen, dass Russland eine gleiche Anzahl westlicher Diplomaten zu unerwünschten Personen erklären wird. Darauf deutet die Reaktion auf die britischen Maßnahmen hin. Auch die Ankündigung der Sprecherin von Russlands Außenminister Sergej Lawrow weist in diese Richtung. Sie sprach von einer raschen, „adäquaten“ Reaktion. Lawrow erklärte am Mittwoch, die Ausweisung zeige erneut, dass es auf der Welt nur noch wenige eigenständige Akteure gebe. Für die Spannungen machte er nicht Großbritannien, sondern die USA verantwortlich. „Wir wissen seit Langem, dass dies das Resultat kolossalen Drucks, kolossaler Erpressung ist, die das wichtigste Instrument Washingtons in der internationalen Arena sind“, sagte Lawrow. Der Fall Skripal zeige, „im Westen hören die herrschenden Eliten nicht auf die Stimme des Volkes“. Über die Botschaften wurde den betreffenden Ländern eine in harschem Ton gehaltene Protestnote übermittelt.

Wie ist die Beweislage?

Nach Erkenntnissen der britischen Ermittler wurde bei dem Anschlag das Nervengift Nowitschok eingesetzt, ein chemischer Kampfstoff, der für militärische Zwecke in der Sowjetunion hergestellt wurde. Experten können die Herkunft solcher Kampfstoffe im günstigsten Fall sogar bis zu einem bestimmten Labor zurückverfolgen. Die britische Premierminister Theresa May informierte ihre Partner in der EU über die Erkenntnisse, daraufhin schlossen sich alle EU-Staaten, selbst die dem Kreml eher wohlgesonnenen, der Auffassung an, dass Russland mit hoher Wahrscheinlichkeit verantwortlich sei und es „keine alternative plausible Erklärung“ gebe.

In Geheimdienstberichten ist es nichts Ungewöhnliches, dass nur mit Wahrscheinlichkeiten gearbeitet wird. Neben der Herkunft des Kampfstoffes könnte auch die Art und Weise, wie Skripal und seine Tochter damit in Kontakt kamen, Aufschluss über mögliche Urheber geben. Dazu hat sich die britische Regierung noch nicht offiziell geäußert. Medienberichten zufolge verfolgen Ermittler aber die Theorie, das Gift könne sich in Julia Skripals Koffer befunden haben. Die Tochter war kurz vor der Vergiftung aus Russland gekommen.

Der britische Außenminister Boris Johnson wies zudem auf Äußerungen des russischen Präsidenten Wladimir Putin über das Schicksal von Doppelagenten hin: Putin hatte 2010 gesagt, Verräter würden an den 30 Silberlingen, die sie erhielten, ersticken. Außerdem ist in Großbritannien nur zu gut der Fall des mit radioaktivem Polonium ermordeten russischen Ex-Agenten Alexander Litwinenko in Erinnerung. Nach zehn Jahren und einer offiziellen Untersuchung des Falls konnten die Briten nicht nur zwei Russen als Täter namentlich benennen, der britische Untersuchungsrichter kam auch zu dem Schluss dass Putin den Mord wahrscheinlich gebilligt habe. Neben Litwinenko gab es noch weitere verdächtige Todesfälle von Russen im britischen Exil.

Muss angesichts der offenen Fragen nicht das Ergebnis eines rechtsstaatlichen Verfahrens abgewartet werden?

Das ist grundsätzlich richtig. Aber kann man davon ausgehen, dass sich Russland ohne Einschränkungen einem rechtsstaatlichen Verfahren stellt? Dafür gibt es keine Hinweise. Im Gegenteil: Russland entzog sich vielmehr rechtsstaatlichem Vorgehen schon einige Male. So im Fall Litwinenko. Eine Beteiligung an den Verfahren in Großbritannien hat Moskau immer mit der Begründung zurückgewiesen, sie seien politisch motiviert.

Einer derjenigen, die nach rechtsstaatlichem Verständnis in Großbritannien vor einem Gericht erscheinen müssten, sitzt seit Jahren im russischen Parlament. Ähnlich verhält es sich auch mit dem Abschuss der niederländischen Verkehrsmaschine MH17 über der Ukraine. Russland hat immer wieder neue, manchmal einander substanziell widersprechende Versionen seiner Position vorgelegt. In den Niederlanden ist der Fall faktisch aufgeklärt, die Anklage – gegen russische Militärs – könnte vor einem Gericht verhandelt werden. Allein: Moskau kooperiert nicht für den Beginn eines Prozesses. Erst jüngst kassierte Russland ein Urteil vor dem Stockholmer Schiedsgericht, dessen Zuständigkeit man ausdrücklich anerkennt. Da der Spruch jedoch gegen Gasprom ausfiel, wird dessen Umsetzung verweigert. Darin liegt das Problem: Russland mahnt Rechtsstaatlichkeit an, akzeptiert aber nicht deren Grundsätze.

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