zum Hauptinhalt
Mehr als 200.000 geflüchtete Kinder und Jugendliche aus der Ukraine werden derzeit in Deutschland beschult.

© dpa/Andreas Arnold

„Man kann die Lage nicht aushalten“: Viele Schulen sind überfordert durch die enorme Zahl geflüchteter Kinder

Kinder auf Wartelisten, Lehrkräfte am Limit: Viele Schulen sind überfordert mit der steigenden Zahl an geflüchteten Kindern. Besonders deutlich wird der Mangel in zwei Bundesländern.

Die Schulen und vor allem die Lehrer:innen in Deutschland sind am Limit, waren es schon bevor der russische Angriffskrieg in der Ukraine begann – wegen des eklatanten Personalmangels. Laut einer Umfrage fehlen derzeit in Deutschland mehr als 12.000 Lehrer:innen.

Der Deutsche Lehrerverband sieht einen noch größeren Mangel. Und die Kultusministerkonferenz glaubt, dass bis zum Jahre 2025 rund 25.000 Lehrkräfte fehlen werden. Zu diesem schwer einzudämmenden Problem kommt nun auch noch ein enormer Raummangel: Deutschlands Schulen platzen aus allen Nähten.

Bis Ende Mai 2023 wurden an den allgemeinbildenden und berufsbildenden Schulen in Deutschland 208.664 Kinder und Jugendliche aus der Ukraine aufgenommen. Und das sind die, die Glück hatten. 4000 geflüchtete Kinder warten hierzulande derzeit auf einen Schulplatz, dabei konzentriert sich fast alles auf die Länder Berlin und Nordrhein-Westfalen.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

1700 Kinder stehen in Berlin auf einer Warteliste, in Nordrhein-Westfalen sind es 1650. Und auch was die fehlenden Lehrkräfte angeht, ist das Flächenland im Westen Spitzenreiter: Bis zum vergangenen Jahr seien in Nordrhein-Westfalen noch 8000 Stellen unbesetzt gewesen, inzwischen seien es zumindest 1300 weniger, sagte Andreas Bartsch, Vorsitzender des nordrhein-westfälischen Lehrerverbands, dem Tagesspiegel.

4000
geflüchtete Kinder aus der Ukraine und anderen Ländern warten derzeit auf einen Schulplatz.

Derzeit fehle es an allen Ecken und Kanten, meint er. „Wir brauchen Lehrkräfte, Psychologen, Sozialarbeiter, wir haben es hier mit einer grundsätzlichen Überforderung zu tun, sowohl der Schulen als auch der Kommunen.“ Die Lehrkräfte vor Ort bemängelten vor allem, dass es keine Verbindlichkeit gäbe.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

„Es kommen zu viele, erst in die großen Städte, dann wird es dort mit dem Wohnraum schwierig und sie orientieren sich anderweitig.“ Wenn eine Schule einen Jahrgang etwa von Drei-auf Vierzügigkeit erhöhe, gehe das mit einem riesigen Verwaltungsaufwand einher. „Schulen sind leider nicht flexibel und agil, das geht nicht leichtfertig. Aber an einen Ort binden kann man die Familien natürlich auch nicht.“

Unzufrieden mit der aktuellen Situation ist auch Ayla Çelik, Vorsitzender der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft NRW. „Bildung ist ein Menschenrecht“, sagt sie.

„Wir können es nicht Kindern und Jugendlichen aufgrund ihres Status verwehren.“ Auch wenn die Kinder auf ein System träfen, das unter Fach- und Lehrkräftemangel am Limit sei: „Sie sollten das gleiche Recht auf Entfaltung ihrer Persönlichkeit haben. Dass viele Kinder noch immer auf einen Schulplatz warten, ist nicht hinnehmbar.“

Vielleicht noch ein, maximal zwei Jahre, dann bricht das System zusammen – und wir reden hier nicht mehr von Qualität.

Martin Heuer, Lehrer an einer Hauptschule in Dortmund

Martin Heuer ist Lehrer an einer Hauptschule in Dortmund. Er schildert die Situation als prekär. „In Dortmund kommen jede Woche 150 neue Kinder an, so oft ändern sich also auch die Klassen. Wir versuchen in Kleingruppen Deutsch als Fremd- oder Deutsch als Zweitsprache zu unterrichten, aber scheitern wegen dieser Verwaltung des Mangels.“

Das Recht auf Bildung lasse sich nicht mehr einhalten. Jede Stadt versuche Räume umzuwidmen. „Aber sie können sich vielleicht ungefähr die Lernatmosphäre vorstellen. Zumal es hier um Kinder mit besonderen Bedürfnissen geht, die wir nicht erfüllen können. Das ist die traurige Wahrheit.“ Heuer spricht von einer Kriegssituation in der Schule, immer mehr Lehrkräfte würden krank wegen der Zustände.

„Auch das ist ein Dammbruch. Bei allen ist die Belastungsgrenze erreicht, man kann die Lage gar nicht mehr aushalten.“ Lange sei die Situation nicht mehr aufrechtzuerhalten, glaubt er. „Vielleicht noch ein, maximal zwei Jahre, dann bricht es zusammen- und wir reden hier nicht mehr von Qualität.“

In den Grundschulen ist die Situation besonders angespannt.
In den Grundschulen ist die Situation besonders angespannt.

© dpa/Christoph Soeder

In seinen Klassen seien in der Regel etwa 25 Schüler:innen, mit den Ukrainer:innen mehr als 30. Noch finsterer sei die Situation an den Grundschulen. „Die starten schon mit 30. Jetzt bersten die Klassen.“ Er hofft, dass das Land endlich eingreift. „Die müssen Leute abziehen Richtung Ruhrgebiet, schauen, was man temporär aussetzen könnte, um das System irgendwie am Laufen zu halten.“

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

Die Versorgung und Beschulung geflüchteter Kinder und Jugendlicher liege in der Zuständigkeit der Länder, heißt es dazu auf Nachfrage beim Bundesministerium für Bildung und Forschung.

Damit mache man es sich zu einfach, findet Nina Stahr, die bildungspolitische Sprecherin der Grünen. „Dass der Bund die Verantwortung oft weit von sich weist, halte ich für falsch“, sagte die Politikerin dem Tagesspiegel. „Der Föderalismus bedeutet nicht, dass wir Länder und Kommunen bei der Versorgung der Geflüchteten einfach allein lassen können; es ist auch unsere Verantwortung als Bund, hier Lösungen zu finden.“

Dass der Bund die Verantwortung oft weit von sich weist, halte ich für falsch.

Nina Stahr, bildungspolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion im Bundestag

Nach 2015 sei es bundesweit verschlafen worden, flexibler zu werden, moniert Stahr. „Wir haben zwar Lehren gezogen aus der damaligen Situation, aber es trotzdem nicht geschafft, genug Kapazitäten zu schaffen, um schnell hochfahren zu können.“ Natürlich könne man Lehrkräfte und Personal nicht auf Halde bereithalten.

Aber es sei verhältnismäßig einfach, Arbeitskräfte aus anderen Ländern schneller startklar zu machen, geflüchtete Lehrer:innen aus der Ukraine zum Beispiel. „Es gibt genug Leute, die gut ausgebildet sind und arbeiten wollen, die gilt es flexibler einzubauen, wenn wir jetzt wirklich kurzfristig etwas an der angespannten Lage in den Schulen ändern wollen.“

Die Opposition sieht die Ampelkoalition in der Pflicht. Nicole Gohlke, bildungspolitische Sprecherin der Linken im Bundestag, bezeichnet die Wartelisten als „sehr trauriges Symptom eines über Jahrzehnte kaputt gesparten Bildungssystems.“ Für die geflüchteten Kinder sei die Bildungskatastrophe doppelt bitter. „Hier sind alle Player auf den verschiedenen politischen Entscheidungsebenen – von den Kommunen bis zum Bund – gefragt.“

Die Hilferufe aus den Kommunen und Ländern werden seit Monaten von der Bundesregierung ignoriert, meint Thomas Jarzombek, Bildungspolitiker der Unionsfraktion.

Kindergärten und Schulen leisteten seit geraumer Zeit einen herausragenden Beitrag zur Integration ukrainischer Flüchtlinge, doch die Ressourcen seien begrenzt. „Die Bundesregierung muss jetzt endlich Verantwortung übernehmen und handeln.“

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false