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Großbritanniens neue Chefin? Außenministerin Liz Truss ist bereits so siegesgewiss, dass längst Kabinettslisten kursieren.

© AFP

Nachfolge von Boris Johnson: Liz Truss steuert auf die Downing Street zu

Unterstützt vom scheidenden Premierminister Johnson steht die Außenministerin trotz großer Zweifel in der konservativen Partei vor dem Sieg.

Noch knapp vierzehn Tage noch lang spannen die britischen Konservativen die Nation auf die Folter. Dann soll nach langen Wochen der Unsicherheit endlich offiziell feststehen, wer den scheidenden Premier Boris Johnson als Partei- und Regierungschef beerbt. Den Umfragen unter den rund 160 000 wahlberechtigen Tory-Parteimitgliedern zufolge ist alles bereits entschieden: Der Sieg von Außenministerin Liz Truss steht dem Glasgower Politikprofessor John Curtice zufolge „zu 95 Prozent“ fest. Truss müsste „spektakuläre Fehler“ machen, um ihrem Rivalen Rishi Sunak den Vortritt lassen zu müssen, so der Doyen der britischen Demoskopieforschung.

Die Aussicht auf den Sieg der 47-Jährigen alarmiert viele frühere Parteigrößen. Am Wochenende warf der langjährige Minister und Brexit-Wegbereiter Michael Gove sein Gewicht für Truss’ Rivalen Rishi Sunak in die Waagschale: Die Wahlkampagne der Außenministerin stelle „eine Auszeit von der Realität“ dar; insbesondere würden die geplanten Steuersenkungen, ein Lieblingsthema für Torys, vermögende Manager entlasten statt den Ärmsten der Gesellschaft unter die Arme zu greifen.

Härter hatte dies bereits Ex-Parteichef Michael Howard formuliert: Der 81-Jährige sprach von „politischem Suzid“. Tatsächlich geht in der Bevölkerung die Angst um vor riesigen Energie-Rechnungen in diesem Herbst; viele der am schlimmsten Betroffenen zahlen wegen großzügiger Freibeträge ohnehin kaum Steuern, sind vielmehr auf staatliche Beihilfen angewiesen. Die Labour-Opposition will die anstehenden Preiserhöhungen aussetzen; prompt liegt die Arbeiterpartei (43 Prozent) in den Umfragen deutlich vor der völlig mit sich selbst beschäftigten Regierungspartei (28 Prozent).

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Die Mitglieder der amtierenden Regierung zucken mit den Achseln und verweisen auf die kommende Führung, wohl unter Truss. So siegesgewiss ist die Außenministerin, dass längst Kabinettslisten kursieren und die bisherige Karriere der Favoritin auf Fehler und Versäumnisse hin abgeklopft wird. Truss habe unter drei Premierministern „angemessene Loyalität“ gezeigt, lautet das maliziöse Urteil der „Spectator“-Journalistin Katy Balls. Wird das reichen, um in harten Zeiten Loyalität einzufordern von einer Fraktion, in der die Kandidatin nicht einmal ein Drittel der Abgeordneten für sich überzeugen konnte?

Für den Wankelmut von Truss gibt es zahlreiche Beispiele

Am brutalsten hat die Zweifel an Truss ein früherer Mitarbeiter von Premierministerin Margaret Thatcher (1979-90) formuliert. Truss sei „gefährlich impulsiv und halsstarrig“, teilte Matthew Parris der „Times“ mit: „Sie verfügt über massive Selbstüberschätzung und riesigen Ehrgeiz, ihr politischer Verstand ist stecknadelkopfgroß.“ Ebenso wie bei Johnson werde die Regierung damit beschäftigt sein, die wankelmütige Premierministerin in Schach zu halten: „Sie ist nicht ganz dicht,es wird nicht funktionieren.“

Truss' Konkurrent Rishi Sunak.
Truss' Konkurrent Rishi Sunak.

© AFP

Halsstarrigkeit könnte gewiss einer Spitzenpolitikerin mit ehernen Prinzipien zum Vorteil gereichen, Impulsivität mag lediglich ein Klischee sein, das Frauen in der Politik gern nachgesagt wird. Für den Wankelmut der Außenministerin gibt es hingegen zahlreiche Beispiele.

Im Brexit-Referendumskampf, der zentralen Frage britischer Innen- und Außenpolitik, stritt sie 2016 für den EU-Verbleib, nannte die Leave-Kampagne „extrem und vorgestrig“. Inzwischen lässt sie sich in ihrem Enthusiasmus für den Bruch mit Brüssel von niemandem überbieten. Zu Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine ermutigte Truss britische Freiwillige, für Kiew an die Front zu gehen, was im Verteidigungsministerium für Alarmstimmung sorgte. Rasch musste die Chefdiplomatin sich selbst dementieren. Anfang August redete sie einer stärkeren regionalen Auffächerung der Gehälter im öffentlichen Dienst das Wort – bis Kritiker verdeutlichten, dass damit Gehaltskürzungen für Polizisten, Ärztinnen und Krankenpfleger in den ärmeren Regionen des Landes gemeint waren. Hastig zog Truss die Idee zurück.

Viele Torys trauern Johnson nach

Dass die bisherige Brexit-Chefverhandlerin das Nordirland-Protokoll und damit eine völkerrechtlich verbindliche Vereinbarung mit der Europäischen Union aufkündigen will, mag die protestantischen Hardliner vor Ort begeistern. Den Appetit vieler Nordiren auf die Wiedervereinigung mit der Dubliner Republik dürften die unweigerlichen wirtschaftlichen Turbulenzen eher befördern. Truss beschimpfte die Chefin der schottischen Nationalistenpartei SNP, Nicola Sturgeon, als „Wichtigtuerin“ (attention seeker), die sie einfach ignorieren werde. Das wäre für eine Premierministerin schon deshalb nicht möglich, weil Sturgeon in Edinburgh unangefochten als Ministerpräsidentin amtiert. Zudem sind die Äußerungen politisch töricht, weil sie dem Unabhängigkeitslager in Schottland zusätzliche Anhängerschaft bescheren.

All dies scheint Truss nicht aufhalten zu können, nicht einmal die eifrige Unterstützung durch den amtierenden Premier und dessen engste Weggefährten. Johnson mag im Land längst diskreditiert sein, viele Torys trauern ihm nach – und geben deshalb der „Boris-Kontinuitätskandidatin“ die Stimme, allen Warnungen zum Trotz.

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