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Lockdown für Ungeimpfte in Österreich - und plötzlich wollen sich viele impfen lassen. Schlangen vor Impfangeboten auf dem Weihnachtsmarkt in Wien.

© Joe Klamar/AFP

Tyrannei der Minderheit?: Ein Lockdown für Ungeimpfte geht zu weit

Das Beispiel Österreichs sollte hierzulande keine Schule machen. Doch das Gefühl gegenseitiger Verantwortung muss auch in Deutschland wachsen. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Ein finsteres Wort macht die Runde: Tyrannei der Minderheit. Die Ungeimpften, so der Gedanke. üben nicht nur Freiheitsrechte aus, darunter die Selbstbestimmung über den eigenen Körper aus. Sie werden zur Gesundheitsgefahr für andere.

Wenn zu viele ungeimpft bleiben wie in Deutschland und Österreich, schränken sie zudem die Freiheitsrechte der viel größeren Gruppe der Geimpften ein. Zum Beispiel, weil hohe Inzidenzwerte zu partiellen oder großflächigen Lockdowns führen.

Oder wenn Operationen abgesagt werden, weil die Intensivstationen mit der Zahl der zumeist ungeimpften schweren Coronafälle überlastet sind. So betrachtet tyrannisiert eine Minderheit, die die Impfung verweigert, die Mehrheit der Geimpften.

Österreich hat radikale Maßnahmen verhängt, zunächst für zehn Tage. Ungeimpfte dürfen ihre Wohnung nur noch für eng definierte Zwecke verlassen: Arbeit, Ausbildung, Arztbesuche, Einkauf von Lebensmitteln, körperliche Erholung.

Der Eingriff in die Freiheit muss Grenzen haben

Schon zuvor war ihnen der Besuch von Lokalen, Sportanlagen und Friseursalons verwehrt. Keine Macht der Minderheit über die Mehrheit, ist die Devise.

Deutschland ist weniger streng. Zugang nur für Geimpfte und Genese - das gilt wie hier in Dresden nur für Teile des öffentlichen Lebens, darunter Gaststätten.
Deutschland ist weniger streng. Zugang nur für Geimpfte und Genese - das gilt wie hier in Dresden nur für Teile des öffentlichen Lebens, darunter Gaststätten.

© Robert Michael/dpa

Ein Vorbild für Deutschland? Nein, das geht zu weit, zumal bei der aktuellen Inzidenzlage. Da machen wohl auch die Verfassungsrichter nicht mit. Die Eingriffe in die persönlichen Freiheiten sind gravierend. Und die Begründung ist zu pauschal für die Prüfung, ob die Maßnahmen zweckmäßig und verhältnismäßig sind.

Das kann sich ändern, falls die Not größer wird. Wenn im Extremfall Menschen sterben, weil die Intensivbetten nicht mehr ausreichen, könnte Karlsruhe vor einer ganz anderen Abwägung stehen.

Verführerisch: Der Lockdown motiviert viele zum Impfeni

Und doch dürfte Österreichs Vorgehen auf manche Deutsche verführerisch wirken. Die Ankündigung des Lockdowns für Ungeimpfte hat eine halbe Million Einwohner zum Impfen motiviert. Gewichtet nach der Bevölkerungszahl wäre das so, als entschieden sich 4,6 Millionen Ungeimpfte in Deutschland plötzlich für das Vakzin.

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Aber heiligt der Zweck die Mittel? Darf man eine Minderheit in einen Lockdown schicken, um die Mehrheit vor einem Lockdown zu bewahren?

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Was man in Deutschland derzeit diskutiert, geht nicht annähernd so weit. Eine Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen wie Altenpfleger und Krankenschwestern hält der Staatsrechtler Ulrich Battis für juristisch zulässig. Seine Bedenken, und das ist symptomatisch für die Lage, richten sich auf die Praxis: Was der Staat vorgibt, muss dann auch politisch umgesetzt und kontrolliert werden.

Deutsche Bedenken: Wer soll das kontrollieren?

Da hapert es in Berlin und in Deutschland. Bei der Impfpflicht für Pflegeberufe fürchtet die Politik den Konflikt mit den Berufsvertretungen. Ebenso beim Vorschlag, 3G im Fernverkehr der Bahn vorzuschreiben. Der Haupteinwand lautet: Wer soll das denn kontrollieren?

Die Zugbegleiter, wäre die naheliegende Antwort; ein Prüfschritt mehr neben Ticket, Bahncard und Maskenpflicht. Wenn sie die Bahnpolizei anfordern können, um Maskenverweigerer aus dem Zug zu holen, warum nicht auch im Fall von Fahrgästen, die keines der drei G vorweisen?

Die Bevölkerung eines Landes ist eine Schicksalsgemeinschaft, das macht die Pandemie vielen erst richtig bewusst. Menschen, die in einer Gesellschaft leben, sind aufeinander angewiesen, tragen Verantwortung für einander. Soweit es um Wirtschaft und Sozialstaat geht, ist das weitgehend akzeptiert. Es gilt auch für die Gesundheit.

Das Gewaltmonopol des Staats wird gering geschätzt

Bereits in der ersten Welle erzählten Rückkehrer aus Frankreich und Spanien beeindruckt, wie rigoros die Polizei dort Ausgangssperren mit hohen Geldstrafen durchsetzte. Hierzulande belässt man es meist dabei, Regelbrecher mündlich zu verwarnen.

Im Verhältnis von Rechten und Pflichten legt man in Deutschland tendenziell mehr Wert auf die individuelle Freiheit und weniger auf das Gewaltmonopol des Staats als andernorts in Europa. Prinzipiell ist das nicht falsch. Regeln, die auf Konsens basieren, erzielen mehr Wirkung als Zwang. Die Mehrheit muss sich aber darauf verlassen dürfen, dass der Staat sie schützt, wenn der Freiheitsbegriff der Minderheit Leben zu gefährden droht.

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