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Team Europa: Ursula von der Leyen und Angela Merkel.

© Fabrizio Bensch, Reuters

Was wäre die Alternative?: Warum wir Europa lieben lernen sollten

"Die Welt braucht Europas starke Stimme", sagt Angela Merkel. Recht hat sie. Oder will jemand tauschen - mit Amerika, China, Russland? Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Am vergangenen Montag wachte Europa auf. Die Grenzen wurden wieder geöffnet. Der Kontinent wischte sich den Schlaf aus den Augen, reckte und streckte sich. Diese lähmende Zeit, als die Corona-Pandemie dem Nationalismus Bahn brach, endet nun. „Die Welt braucht Europas starke Stimme“, hat Angela Merkel gesagt, „für den Schutz der Menschenwürde, der Demokratie und der Freiheit.“ Recht hat sie. Anfang Juli übernimmt Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft.

Der Blick schweift umher, sieht Afrika, Asien, Russland, die USA, Lateinamerika. Es ist wie eine Realitäts-Kaltwasserkur, die hohen Infektions- und Todeszahlen erschrecken. Hinter jeder Zahl stehen trauernde Angehörige, Freunde, Kollegen.

Durch den Blick über den Tellerrand wird die Grenzöffnung zu einem Symbol. Europa lebt. Tatsächlich. Vieles ist unvollkommen, manches ein Makel an dieser Gemeinschaft – die Brüsseler Bürokratie, die Steuerlast, die hohen Staatsschulden von Griechenland bis Italien, die Uneinigkeit in der Flüchtlingspolitik, die zum Teil überbordenden Sozialausgaben. Aber das identitätsstiftende Wertenetz besticht durch schlichte, klare Grundsätze.

Als da wären: Völker- und Menschenrechte, Überwindung von Krieg und Feindschaft, Gerechtigkeit, Chancengleichheit, Umwelt- und Klimaschutz, Multilateralismus, Solidarität, kostenfreie Bildung. Die Liste ist unvollständig, die Begriffe klingen bis zur Banalität vertraut. Wer sie hört, möchte fragen: Na klar, was sonst? Aber selbstverständlich ist nichts davon. Vielleicht ist es Zeit, einmal dankbar für diese Union zu sein.

Oder möchte jemand tauschen? Mit Amerika vielleicht? Wo Bildung und Gesundheit auch eine Frage von Wohlstand und Privilegien sind. Wo sinnlose Kriege geführt werden im Namen von Freiheit und Demokratie. Wo Schulschießereien an der Tagesordnung sind. Wo Verbrecher hingerichtet werden. Wo ein Präsident regiert, der mit seiner Egomanie Chaos verursacht.

Oder mit Russland? Wo Dissidenten drangsaliert, Oppositionelle ermordet werden. Wo sich der Nihilismus ausbreitet. Wo das Selbstwertgefühl aus der Leidenschaft bezogen wird, dem Westen nachzuweisen, auch nicht edler zu sein. Wo die Wirtschaftsleistung in der Ausbeutung von Bodenschätzen besteht. Wo ein Präsident regiert, dessen gestalterische Ambitionen sich im Vorzeigen eines blanken Oberkörpers erschöpfen.

Kein anderer Ort, der träumen lässt

Oder mit China? „Der chinesische Traum ist die große Erneuerung der chinesischen Nation“, hat Xi Jingping gesagt. Tibet bleibt besetzt, Uiguren werden kaserniert, Straßen und Plätze flächendeckend per Video überwacht. Mit dem Projekt der Seidenstraße verbinden sich ökonomisch-imperiale Ziele. Die Signale in Richtung Hongkong sind eindeutig.

Was fehlt? Afrika, Lateinamerika, Japan, der Nahe Osten. Doch nirgends findet sich ein Platz, der dauerhaft zum Verweilen einlädt. Der inspiriert, träumen lässt, als Vorbild fungiert.

Aus diesem ganz persönlichen Befund Anmaßung oder Arroganz abzuleiten, wäre verständlich, aber verkehrt. Europa als Glücksfall zu empfinden, ist ein Gefühl, das sich in erster Linie aus Nähe speist. Wenn dem Gesamturteil auch subjektiv geformte Vergleichskriterien zugrunde liegen, ist das unvermeidlich für jeden, der keine Scheuklappen trägt. Sollten Nicht-Europäer zu anderen Ergebnissen gelangen, wäre das ebenso legitim. Europa lebt: Das ist ein kurzer Satz, der große Freude stiften kann.

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